Wie man die Bibel mit dem Verstand liest…

Von Anfang an sind die Leserinnen und Leser biblischer Literatur mitgerissen worden, aber wie finden wir die Balance zwischen Emotionen und Gedanken?

…und dabei nicht sein Herz verliert. Die Balance finden

 

Wenn wir die Bibel verständiger lesen wollen, müssen wir uns ganz und gar darauf einlassen. Im vorhergehenden Blog haben wir uns mit ein paar einfachen Möglichkeiten beschäftigt, wie wir die Bibel mit unserem Herzen – unserem ganzen emotionalen Selbst – lesen können, ohne dabei unseren „Kopf“ zu verlieren, unsere intellektuellere Seite. Jetzt wollen wir das umdrehen und uns fragen, wie wir die Bibel „mit dem Kopf voran“ lesen (ja, einige von uns sind so gestrickt), ohne dabei die ganze, menschliche Erfahrung emotionaler Antworten zu opfern.

Von Anfang an sind die Leserinnen und Leser biblischer Literatur mitgerissen worden von den tiefgehenden Gedanken in diesen Texten. Ob in der rhetorischen Komplexität des Buchs Hiob, in den komplizierten Fallstudien des mosaischen Gesetzes oder die labyrinthartigen Argumentationen von Paulus – in jedem einzelnen Buch der Bibel gibt es viel geistliche Nahrung für tiefgehende Gedanken. Menschen, die predigen, lehren, Theologie studieren, sie alle haben sich in den Seiten der Bibel verloren – und wiedergefunden – und dabei einige der beeindruckendsten, wissenschaftlichen Werke in der Geschichte der Menschheit hervorgebracht.

Es ist schön zu sehen, wie sich jemand intellektuell mit den tiefgehenden Gedanken der Bibel auseinandersetzt. Aber wir wissen alle, dass diese rationale Verbindung mit der Bibel auch eine Schattenseite haben kann. Manche haben schon schmerzhaft die intellektuelle Arroganz anderer erfahren, wenn es um die Bibel geht. Es tut weh, wenn jemand Tatsachen – mit denen wir uns möglicherweise noch nie tiefer auseinandersetzen konnten oder auf die wir momentan nicht angemessen reagieren können – benutzt, um uns niederzumachen.

Außerdem ist da noch die bizarre Erfahrung eines hyperrationalen Zugangs zur Bibel. Vielleicht fällt es uns schwer, uns auf eine aufrichtige Predigt einzulassen, weil wir so von der Ausschlachtung eines griechischen Wortes in Anspruch genommen sind. Oder wir verlassen ein langjähriges Treffen zum Bibellesen, weil sie die Bibel dort „falsch lesen“. Möglicherweise verändern sich sogar unsere eigenen Gefühle bezüglich der Bibel, wenn wir sie alleine lesen. Die Frische und Freude scheinen abhandengekommen zu sein. Die Farbe scheint aus dem Bibellesen verschwunden zu sein, bis nur noch Schwarz und Weiß übriggeblieben sind. Und wir sind weniger glücklich, unser Geist fühlt sich ausgekühlt an und wir fragen uns, was mit uns los ist.

Die gute Nachricht? Nichts ist mit uns los, oder zumindest nichts, was andere nicht auch schon seit Jahrtausenden erleben. Es gibt viele Stellen in der Bibel, die die entscheidende Bedeutung unseres Herzens beim Lesen deutlich machen, aber Paulus‘ Ermahnung an die Gemeinschaft der Christen in Kolossä ist besonders deutlich:

„Gebt den Worten von Christus viel Raum in euren Herzen. Gebraucht seine Worte weise, um einander zu lehren und zu ermahnen. Singt, von Gnade erfüllt, aus ganzem Herzen Psalmen, Lobgesänge und geistliche Lieder für Gott.“ (Kolosser 3,16)

Erkennst du, wie der „Kopf“ (lehren und ermahnen) und das „Herz“ (emotionale Reaktion: gemeinsamer Lobpreis, der von Herzen kommt) hier miteinander verbunden werden? Unsere ganze Person ist eine Einheit, die Jesu Wahrheit und Schönheit in sich aufnimmt und echte Dankbarkeit zurückgibt. Und ist es nicht interessant, dass dieser ganze Abschnitt nicht als ein Kommentar oder Prinzip formuliert ist, sondern als eine Aufforderung? Paulus macht deutlich, dass wir uns dazu entscheiden können, Jesu Wort (damit kann sämtliche biblische Literatur/alle Texte der Bibel beschrieben werden) „viel Raum in unseren Herzen“ zu geben.

Die logische nächste Frage ist, wie wir diese gute Balance finden, unseren Kopf zu benutzen, ohne dabei unser Herz zu verlieren. Es muss mehr sein als nur ein hochtrabendes Ideal. Als nächsten Schritt zur Umsetzung findet ihr hier drei praktische Tipps.

 

Geh‘ den Weg nicht allein!

 

Biblische Literatur ist das Produkt vieler Glaubensgemeinschaften, die im Laufe der Geschichte über die antike Welt verbreitet waren. Und auch wenn wir alle herausgefordert sind, uns persönlich darauf einzulassen, sollten wir nie wie „einsame Wölfe“ lesen. Tatsächlich verlieren wir den persönlichen Zugang zur Bibel sehr leicht, wenn wir aufhören, gemeinsam mit anderen zu lesen, vor allem mit denen, die die Bibel mit einer anderen Brille lesen als wir selbst. Lies also nicht allein!

Es gibt mehr als nur einen Grund, warum Bibellesen gemeinsam mit anderen den Kopf und das Herz so gut verbindet. Sicher entdecken wir dann wahrscheinlich eine neue Perspektive oder werden an eine Wahrheit erinnert, die wir lieber unbemerkt vergessen hätten. Aber da ist auch etwas weniger Greifbares – die Qualität der Liebe, die oft entsteht, wenn wir anderen beim Lesen, Predigen, Lehren, Studieren und Ringen mit der Bibel zusehen. Uns gemeinsam auf die Bibel einzulassen, erinnert uns daran, weshalb dieses Buch für Generationen von Leserinnen und Lesern lebendig wird.

Es ist schwer, unberührt zu bleiben, wenn man sich mit der Liebe anderer für die Bibel beschäftigt. Dabei ist es egal, in welchem Medium das geschieht: einem guten Buch, einer aufgenommenen Predigt, usw. (inklusive der BibleProject-Videos und anderer Ressourcen natürlich!).

 

Misch die Dinge etwas auf

 

Wenn wir genug Zeit mit irgendeinem Buch verbringen – selbst einem, das so komplex und faszinierend ist wie die Bibel – verliert es fast zwangsläufig irgendwann etwas von seinem Glanz. Auch wenn der normalerweise wieder zurückkommt, das Gefühl der Eintönigkeit beim Aufschlagen der Bibel ist ein Zeichen dafür, dass du die Dinge mal wieder etwas aufmischen solltest. Probier mal eine andere Übersetzung – eine, die eine andere Sprache benutzt als die, die du gewohnt bist.

Versuche, dir beim Spazieren gehen, bei der Gartenarbeit, beim Malen, auf dem Weg zur Arbeit oder vorm Schlafengehen eine Audioversion anzuhören. Lerne einen deiner Lieblingsabschnitte auswendig, vielleicht sogar mit passenden Gesten, damit er besser „hängenbleibt“.

Eine meiner liebsten Strategien währen meiner Studienzeit war es, zusammen mit einem guten Freund während des Frühstücks ganze Abschnitte laut vorzulesen. (Ich schmecke immer noch die Pfannkuchen, wenn ich den Brief an die Römer lese.) Menschen sind dazu gemacht, Abwechslung zu genießen. Es ist wichtig, dass du einen Weg zu neuer Faszination und Begeisterung findest.
Was hat das mit dem Herzen zu tun? Ganz einfach. Es ist schwierig, nur mit dem Kopf dabei zu sein, wenn du Spaß hast. Überraschungen und Staunen helfen dir ungemein, dich ganz natürlich mit deiner ganzen Person auf das Bibellesen einzulassen.

 

Antworte mit Demut und Staunen

 

Wir bekommen Schwierigkeiten, wenn wir die Bibel nur als einen Text betrachten, in dem wir unsere intellektuelle Theologie verwurzeln. Betest du die Bibel – benutzt du ihre Worte, um dein Herz auszudrücken? Singst oder liest du sie als Antwort? Wenn ja, bist du schon weit gekommen, aber damit hört es noch nicht auf.

Das Werk der Bibel ist erst dann vollendet, wenn Gottes Geist ihre Wahrheit und Schönheit in unserem Leben entfaltet. Tatsächlich kritisiert die Bibel diejenigen ziemlich scharf, die Gottes Wort begegnen und unverändert wieder gehen. Sie (wir?) werden verglichen mit Personen, die sich selbst im Spiegel anschauen und vergessen, wie sie aussehen, sobald sie sich umdrehen (Jakobus 1,22-25). Deshalb ist die persönliche Antwort auf die Bibel nicht bloß das „Sahnehäubchen“, sondern die eigentliche Torte.

Wie diese Antwort aussieht, ist so vielfältig und individuell wie unser Leben. Aber da ist etwas Authentisches; etwas Echtes, das sich nur aus einem veränderten Leben heraus zeigt. Es ist mehr als nur Religion. Die Antwort eines „verständigeren“ Bibellesenden ist die, dass er oder sie sich immer mehr der Wahrheit und Gnade ausliefert, die in diesem seltsamen und bemerkenswerten Buch offenbart wird.
Wie sieht diese Antwort für dich aus? Die konkrete Veränderung ist wahrscheinlich sehr persönlich, aber es werden immer die Kennzeichen Demut und Staunen sichtbar sein.

Demut bedeutet hier, dass wir mit einer Haltung der Hingabe reagieren und nicht, als würden wir die Bibel kontrollieren oder für unseren Status oder unsere Ziele nutzen wollen. Wir sollen uns ihr unterordnen, mit der festen Überzeugung, dass da etwas Gutes passiert, ob wir es ganz verstehen oder nicht.

Und Staunen. Staunen! Dieses Gefühl der Ehrfurcht in der Gegenwart von etwas, das tief, wild, komplex, vertraut und doch bizarr ist. Wenn die Welt der Bibel unser Leben beeinflusst, ertappen wir uns dabei, wie wir auf ganz neue Weise denken und lieben. Wenn es „funktioniert“, ist es einfacher, das Heilige um uns herum wahrzunehmen, während wir die falsche Spiritualität nur schwer ertragen können, die uns begegnet. Wir „freunden“ uns mit seltsamer Gesellschaft an, wie Hagar, Josua, David, Hesekiel, Barnabas und Johannes. Vor allem wird unsere Sicht der Weltgeschichte (und unserem Platz darin) langsam im Licht von Jesu Botschaft verändert.

Die Freude, die wir finden, wenn wir intellektuelle Anmaßungen beim Bibellesen links liegen lassen (ohne dabei den Kopf auszuschalten), ist ein nicht zu unterschätzendes Geschenk. Die Bibel mit dem Verstand lesen zu lernen, ohne dass dabei das Herz auf der Strecke bleibt, wird wahrscheinlich unser ganzes Leben in Anspruch nehmen. Aber das ist es wert, in jeder Hinsicht, weil wir nicht nur zu verständigeren Bibellesenden werden, sondern auch zu verständigeren Christen und verständigeren Menschen in diesem und dem nächsten Leben.

Im Original von Paul J. Pastor
Übersetzung von Sandra Weißsieker

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