Um eine gute Definition von „Gottes Reich“ zu bekommen, schauen wir uns zuerst an, was die biblischen Autoren unter „Reich“ verstanden haben. Im jüdischen Kontext des ersten Jahrhunderts bedeutete Reich eine greifbare, echte Welt auf der Erde, mit echten Einwohnern und einem echten König, der das Leben in dieser Welt regiert. Wenn Könige auf schädliche Weise lebten und regierten, mussten alle in ihrem Reich leiden. Aber wenn Könige nach Gottes Weisheit handelten, erlebten alle ein besseres Leben, Versorgung und Sicherheit.
Die Spannung in Jesu Aussage „Euch soll es zuerst um Gottes Reich […] gehen“ entsteht durch die Tatsache, dass dieses Reich noch nicht ganz da ist. Er ist der König. Er ist auf dem Thron. Aber noch nicht jeder hat das realisiert.
Es wäre einfacher, jede und jeden Nächsten auf perfekte Art zu lieben, wenn jede und jeder Nächste mich auf dieselbe Art liebt. Aber es ist schwierig (sogar tödlich), auf diese Art in einer ablehnend gestimmten Welt zu leben. Solange Gefahr besteht, kann Angst uns mehr antreiben als Liebe. Wir passen uns an durchschnittliche Lebensmuster an und schätzen Sicherheit über alles andere. Besitz, Einkommen und Absicherungen helfen uns, uns sicher zu fühlen. Das führt oft dazu, dass wir glauben, einen Anspruch auf alles zu haben, was wir besitzen, und mit unseren Nächsten um Ressourcen konkurrieren. Aber Gottes Reich an erste Stelle zu setzen, bedeutet, dass Liebe Priorität vor Überleben hat – etwas, das Jesus durch sein ganzes Leben verkörpert hat, ganz besonders am Kreuz.
Die Erzählung über die frühe Kirche in Apostelgeschichte 2 gibt uns einen flüchtigen Blick darauf, wie Menschen von Liebe angetrieben wurden und auf Jesu Art gelebt haben. Sie leben in Gottes Reich, während sie gleichzeitig in unserer gefährlichen Welt überleben. Aber wie?
Die Erzählung beschreibt sie als eine Gemeinschaft von Menschen, die sich bewusst gegenseitig dabei unterstützen, gemeinsam wie ihr König zu leben. Dieses Leben ist gekennzeichnet durch selbstloses Geben und dem Freisein von ängstlichem Selbstschutz. Die Berichte der Evangelien im Neuen Testament zeigen uns, wie Jesus seine Nachfolger ermutigt, ihr Leben als ein andauerndes Geschenk von Gott zu empfangen und es als ein Geschenk, oder Gnade, auch anderen gegenüber zu leben. Er hat nie angedeutet, dass irgendeine Form von Gewalt nötig sein könnte, um sicher zu sein, oder dass Egoismus nötig sein könnte, um bequemer oder effizienter zu leben.
Er kehrt das Skript der Ablehnung um und lebt entsprechend der versprochenen Realität von Gottes Reich, das auf der Erde genauso real ist wie im Himmel. Auf diese Art zu leben, macht uns frei, um unsere Nächsten genauso großzügig zu lieben, wie er es tut.
Woher echte Sicherheit kommt
Normale Reiche und Könige sagen ihrem Volk, dass Sicherheit und Zufriedenheit entstehen, wenn jemand Geld, Sachen und Macht über andere Menschen hat. Sobald wir diese Dinge haben, können wir uns um andere kümmern.
Aber Jesus, der König in Gottes Reich, sagt uns etwas anderes: Sicherheit und Zufriedenheit entstehen, wenn wir Gott und andere Menschen so lieben, wie uns selbst. Wenn Jesus sagt, „dann wird er euch alles Übrige dazugeben.“, spricht er über Trinken, Essen und ein Dach über dem Kopf – alles Symbole für Versorgung, Fülle und Leben. (1) Zuerst klingt es, als würde er uns eine freundlichere Art zeigen, wie wir jetzt die Dinge bekommen können, die wir so lieben. Aber beachte, wie Jesus der Menge sagt, „dann wird er euch alles Übrige dazugeben.“ Er verspricht nicht, dass das bald passiert.
Er spricht über eine langfristige Vision für eine Wiederherstellung der ganzen Welt. Jesus selbst bekam nicht alle diese Dinge während seines Lebens hier. Er blieb arm und in großer Gefahr, er wurde sogar Opfer eines brutalen Mordes. Aber er wusste, dass das nicht das Ende war. Jeden Tag unsere Bedürfnisse erfüllt zu bekommen, scheint etwas zu sein, das wir letztlich erleben werden, wenn Gottes Reich vollendet ist, wenn jeder überall so handelt und liebt, wie der König.
Viele von uns werden den Schmerz unerfüllter Bedürfnisse in ihrem Leben kennen. Wir haben vielleicht nicht die Nahrung, Medikamente oder andere Dinge, die wir zum Überleben brauchen, selbst wenn wir Jesus treu bis zum Ende nachfolgen. Wir leben vielleicht Gerechtigkeit für alle und erleben trotzdem Unterdrückung. Manche von uns werden leiden und haben niemanden, der sich um sie kümmert. Jesu Leben und Worte zeigen auch diese Realität. Er hat selbst Verrat, Armut, Hunger und Gewalt erlebt, als er im Sinne von Gottes Reich gelebt hat. Aber er hat sich nie unsicher gefühlt. Durch alle Evangelien hindurch zeigt die Geschichte von Jesus, dass er sein Leben immer sicher in Gottes Händen wusste.
Jesus verfolgte keine sorgenvollen Wege von Absicherungen oder Anhäufungen, und er lehrt seine Nachfolger, das auch nicht zu tun. (2) Er hat sich voll und ganz auf Gottes Versprechen verlassen und darauf vertraut, dass der Weg der Liebe zufriedenstellender und sicherer ist als jeder andere Weg.
Wir können Gottes Reich – zumindest teilweise – schon jetzt erleben, vor allem in Gemeinschaften, wo auch andere sich entscheiden, wie Jesus zu leben. (3) Trotzdem leiden wir noch auf eine Art und Weise, die uns einlädt, uns mehr und mehr auf Gottes großzügigen Charakter und sein Versprechen zu verlassen, dass er sein Reich mit unserer ganzen Welt vereinen will.
Wir werden uns nicht mehr mit unseren Mitstreitern messen und wetteifern. Wir werden uns keine Gedanken mehr um die Anerkennung von anderen Personen machen. Je mehr wir die Wege Jesu und seines Reichs praktizieren, desto mehr tauchen wir in eine Art von Freiheit ein, die uns zu erkennen hilft, dass wir nicht länger in Gefahr sind.
Gott hält uns. Wir sind sicher, und wir sind geliebt.
All die bruchstückhaften und verdrehten Wege, mit denen wir unsere tiefsten Bedürfnisse stillen wollen, werden vorbei sein, wenn Jesus Himmel und Erde erneuert. Jesus bringt das Leben, wie wir es uns in Eden vorstellen – friedvoll, ohne Bedrohungen, erfüllt von Abenteuer und großzügiger Liebe. Die biblische Geschichte formt unser Verständnis von diesem künftigen Eden-artigen Leben, indem sie eine üppige Welt frei von jeglicher Bedrohung darstellt.
Gottes Reich jetzt an erste Stelle setzen
Wie sieht also ein Leben in der neuen Lebensweise Jesu konkret aus?
Wir lernen, wie wir Gottes Reich an erste Stelle setzen, wenn wir bewusst in die einzigartige Geschichte Gottes eintauchen. Das tun wir, indem wir die Täuschungen aufdecken, mit denen menschliche Reiche gebaut werden, oder Lügen bloßstellen, die nur nachlässige oder gewalttätige Handlungen anderen gegenüber rechtfertigen wollen. Wir lernen, darauf zu vertrauen, dass Gott mit seinem Versprechen nicht lügt: Dass sein Reich die Welt ist, für die wir gemacht wurden, und dass er es in unsere Welt bringen will. Indem wir diesem Versprechen vertrauen, können wir langsam beginnen, zu sehen, wie wir schon jetzt frei sind von höchster Gefahr.
„Tod, wo ist denn dein Sieg?“ fragt der Apostel Paulus, „Tod, wo bleibt dein Stachel?“ (4) Er hatte schon das Reich Gottes an die erste Stelle gesetzt, selbst im Angesicht von Gefängnisstrafe und Tod. Diese Bedrohungen haben ihm mit Sicherheit Angst gemacht, aber seine Liebe für Jesus und seine Nächsten war stärker als diese Angst. Paulus hat sich von Liebe antreiben lassen – nicht von Angst.
Jeder hat echte Bedürfnisse, und Jesus spielt diese nicht herunter. Er lehrt die Menschen, einander zu geben und voneinander zu empfangen. Es ist ein Weg, das Reich Gottes an erste Stelle zu setzen, und damit können wir jetzt schon anfangen, genau so zu leben, wie wir es in Gottes erneuerter Welt immer tun werden.
Jesus sagt „… dann wird er euch alles Übrige dazugeben.“, nicht „du solltest diese Dinge nicht wollen.“ Unser menschlicher Überlebenswille ist nicht schlecht. Jesus selbst spricht seinen eigenen Wunsch zu überleben aus, als er im Garten Gethsemane betet, „Vater, wenn du willst, nimm diesen Kelch von mir weg!“ (5) Der Kelch ist eine Metapher für die Verantwortung, die Gott ihm gegeben hat: lieber zu leiden und zu sterben, statt zurückzuschlagen, um sich zu schützen. Er fleht Gott an, weiterleben zu können. Aber sein Wunsch nach persönlicher Sicherheit ist nicht größer als alles andere. Seine höchste Priorität ist Gottes Wille. Darum sagt er gleich nach seinem Wunsch zu leben: „Doch nicht mein Wille soll geschehen, sondern der deine.“ (6) Das ist ein Beispiel dafür, Gottes Reich an erste Stelle zu setzen, selbst im Angesicht des Todes.
Schließlich ist das Reich Gottes an erste Stelle zu setzen ein Weg, Hoffnung zu wagen. Die von Jesus berufenen Boten sprechen von einem Tag, wenn wir das Reich Gottes nicht mehr suchen müssen, weil es dann ganz hier sein wird. (7) Es wird eine Welt sein, in der jeder tief und ehrlich jeden anderen lieben wird. Es wird keine Verletzungen, Verlust oder Tod geben, keine Türschlösser und keine Bedrohungen.
Darum lieben, erwarten und setzen wir an erste Stelle, was sowohl noch kommt als auch schon da ist. Wir sind fast zu Hause.