Die Sünden unserer Vorfahren

Zieht Gott uns für die Fehler unserer Eltern zur Verantwortung?

Dieser Abschnitt aus dem Buch Exodus ist der am meisten zitierte der ganzen Bibel

 

„Ich bin der Herr, der barmherzige und gnädige Gott. Meine Geduld, meine Liebe und Treue sind groß. Diese Gnade erweise ich Tausenden, indem ich Schuld, Unrecht und Sünde vergebe.“ (Exodus 34,6-7)

Man versteht, warum dieser Abschnitt der am häufigsten zitierte in der hebräischen Bibel ist – wer will nicht an einige der wunderbarsten Eigenschaften von Gottes Charakter erinnert werden? Er ist wunderbar, barmherzig und ermutigend.
Die nächsten Worte des Abschnitts sind deshalb umso herausfordernder (um nicht zu sagen: schockierend):
„… Und trotzdem lasse ich die Sünde nicht ungestraft, sondern kümmere mich bei den Kindern um die Sünden ihrer Eltern, bis in die dritte und vierte Generation.” (Exodus 34,7)

Autsch.

Zieht Gott uns für die Fehler unserer Eltern zur Verantwortung? Diese Verse in Exodus scheinen genau das zu sagen. Aber das klingt etwas hart, oder? Es ist eine Sache, dass wir von unseren Eltern geprägt werden – das kennen wir alle. Sie vererben uns körperliches Aussehen, Anfälligkeiten für bestimmte Krankheiten, Eigenarten und die Art und Weise, wie wir die Welt sehen. Es ist klar, dass die Entscheidungen unserer Eltern, und wer sie sind, großen Einfluss auf uns haben. Aber werden wir wirklich bestraft für etwas, das unsere Eltern getan haben?

In diesem Abschnitt werden wir mit dem beängstigenden Konzept der Rechenschaftspflicht der Generationen konfrontiert. Aber wenn wir uns das etwas genauer anschauen, sehen wir, dass Gott seinen Zorn über die Taten der Eltern nicht an völlig unschuldigen Kindern auslassen will. Gott warnt sein Volk davor, dass jede Generation die Verantwortung dafür tragen muss, wenn sie die Sünden der vorhergehenden Generation wiederholt.

 

Bei Gottes Gerechtigkeit geht es um einen Bund der Liebe

 

Lasst uns einmal den Zusammenhang anschauen. Wie jede herausfordernde biblische Aussage kommt dieser Vers nicht aus dem Nichts, sondern er steht vor dem Hintergrund einer extrem wichtigen Beschreibung von Gottes Charakter.

In Exodus 34 befindet sich Mose auf dem Berg Sinai, wo er als Israels Stellvertreter mit Gott den Beziehungsbund schließt, während das Volk unten am Berg wartet. Gott hatte die Israeliten gerade aus der Sklaverei und Unterdrückung in Ägypten gerettet, und die Bundesbeziehung mit Israel sollte allen Nationen seinen liebevollen Charakter zeigen. Gott investiert viel in diese Gruppe von Leuten und er erwartet von ihnen im Gegenzug, dass sie ihr Leben auf eine bestimmte Art und Weise führen.

Aber eigentlich ist dies schon Moses zweiter Besuch auf dem Berg Sinai, um Israels Bund mit Gott zu schließen. Er hatte bereits 40 Tage und 40 Nächte auf dem Berg mit Gott verbracht (Exodus 24-32). Und während seiner Abwesenheit sind die Israeliten ungeduldig und ängstlich geworden. Konnten sie wirklich darauf vertrauen, dass Gott für sie sorgt? Warum brauchte Mose bloß so lange?

Noch bevor Mose wieder vom Berg herabgekommen war, hatten die Israeliten die Sache selbst in die Hand genommen.

Als Mose lange Zeit nicht vom Berg herunterkam, gingen die Leute gemeinsam zu Aaron. „Auf! Mach uns einen Gott, der uns führt!“, forderten sie ihn auf. „Wir wissen nicht, was diesem Mose zugestoßen ist, der uns aus Ägypten hierher gebracht hat.“ Da entgegnete Aaron: „Nehmt euren Frauen, Söhnen und Töchtern ihre goldenen Ohrringe ab und bringt sie zu mir.“ Alle Israeliten kamen Aarons Aufforderung nach und brachten ihre goldenen Ohrringe zu ihm. Aaron nahm das Gold von ihnen, schmolz es ein und verwendete es dazu, um ein Götzenbild in Form eines Kalbes anzufertigen. Da riefen die Leute: „Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägypten geführt hat!“ (Exodus 32,1-4)

Israel baute sich ein Götzenbild, das Gottes Platz einnehmen sollte, während Gott gerade dabei war, eine ewige Bundesbeziehung mit ihnen zu schließen. Wenn das nicht beleidigend ist! Das ist ungefähr so, als ob eine Braut während ihrer eigenen Trauung den Trauzeugen küsst. Gott ist verständlicherweise zornig.

Erstaunlicherweise entscheidet sich Gott dafür, seine Partnerschaft mit Israel aufrechtzuerhalten – nicht, weil sie es verdient hätten, sondern wegen seiner Gnade, Barmherzigkeit und treuen Liebe.

Aber er möchte, dass Israel eins versteht: Seine Geduld mit ihnen ist kein Freifahrtschein, um mit diesem treulosen Verhalten weiterzumachen. Gottes Aussagen zur Rechenschaftspflicht der Generationen sind Teil einer größeren Beschreibung seines Charakters, die er Mose gibt, als der wieder auf den Berg heraufkommt.

„Ich bin der Herr, der barmherzige und gnädige Gott. Meine Geduld, meine Liebe und Treue sind groß. Diese Gnade erweise ich Tausenden, indem ich Schuld, Unrecht und Sünde vergebe.” (Exodus 34,6-7)

Vor diesem Hintergrund können wir nachvollziehen, warum Gott über Israels Zukunft nachdenkt und über die Wahrscheinlichkeit, mit der sie den künftigen Bund mit ihm missachten werden. Gott wünscht sich eine langfristige Beziehung mit Israel. Er weiß, dass jede neue Generation ihn betrügen wird, genauso wie die vorherige. Und er macht klar, dass jede zukünftige Generation für die Einhaltung des Bundes selbst verantwortlich ist.

Letztendlich wird klar: Gottes Liebe wäre keine wirkliche Liebe ohne seine Gerechtigkeit. Auch wenn dieser Abschnitt erstmal hart erscheint – eigentlich geht es darum, dass Gott seinen Bund der Liebe mit der Menschheit aufrechterhält.

 

Wer ist also verantwortlich für was?

 

Warum sagt Gott, dass er „Schuld bis in die dritte und vierte Generation verfolgt.“? Was bedeutet das überhaupt? Ist die fünfte Generation damit fein raus?Die „dritte und vierte…“ ist ein hebräischer Ausdruck für „solange es dauert“ oder „so viele wie nötig“.

Gott hatte (natürlich) recht, was die Entwicklung der Israeliten angeht. Die israelitischen Jahrgänge nach der ersten Verkündung der Rechenschaftspflicht in Exodus 34 haben den Bund so oft gebrochen, dass sie sich im Exil wiederfinden. Der Prophet Jeremia reflektiert ihren Zustand mit Worten aus Gottes Aussage in Exodus:

O Herr, mein Gott! Durch deine große Macht und auf deinen Befehl hin wurden Himmel und Erde geschaffen. Dir ist nichts unmöglich! Tausenden kommst du voller Güte entgegen – dennoch lässt du auch Kinder und Enkel für die Schuld ihrer Eltern büßen. Du bist ein großer und mächtiger Gott; dein Name ist »Herr, der Allmächtige«. Du besitzt alle Weisheit und vollbringst große und mächtige Wunder. Deinen Augen entgeht nichts von dem, was jeder einzelne Mensch tut, und du gibst jedem, was er wegen seines Tuns und wegen seiner Taten verdient hat. (Jeremia 32,16-19)

Jeremia reflektiert Gottes Aussage in Exodus, „die Schuld der Väter zahlst du ihren Kindern heim“, und dann stellt er klar, was das wirklich bedeutet: Gott wird jedem Menschen geben, was er durch sein Tun und sein Verhalten verdient.

Mit anderen Worten, Israel ist im Exil, weil die gegenwärtige Generation die Sünden ihrer Väter wiederholt hat: Den Bruch des Bundes.
Gott geht es nicht darum, Menschen zu bestrafen. Dieser Vers macht deutlich, dass Gott nicht Kinder für die Sünden ihrer Eltern bestraft. Er bestraft nicht einfach eine neue Generation für die Sünden einer vorhergehenden Generation. Aber Gott zieht Kinder zur Rechenschaft, wenn sie nicht aus den Fehlern ihrer Eltern lernen. Es ist die Verantwortung jeder Generation, nicht die Fehler derjenigen zu wiederholen, die vor ihnen waren.

Und lasst uns einmal besonders diese Gegenüberstellung in den Versen betrachten: Rechenschaftspflicht dauert bis in die „dritte und vierte“ Generation, aber Gottes treue Liebe gilt für „tausend“ Generationen.

 

Erinnern, damit die Vergangenheit nicht wiederholt wird

 

Israels Kinder haben am eigenen Leib erfahren, was wir alle aus unserem eigenen Leben kennen. Wir sind zwar nicht verantwortlich für die Fehler unserer Eltern, aber wir müssen uns trotzdem mit den Konsequenzen ihrer Entscheidungen auseinandersetzen.
Diese Realität sollte gleichzeitig ernüchternd und hoffnungsvoll sein.

Zum Beispiel gibt es Menschen, die die Konsequenzen von Abhängigkeit und Missbrauch in ihrem Familienstammbaum zu spüren bekommen haben. Das ist nicht leicht, aber wenn Menschen mit einem solchen Familienhintergrund es schaffen, ihr Leben anders zu leben, scheint Gottes erlösendes Wirken umso heller. Wenn wir Zerrissenheit in unseren Familien sehen und einen Weg einschlagen, der zu Gottes Erlösungsplan für die Menschheit passt, können wir die treue Liebe Gottes klar erkennen.

Hunderte Male in der Bibel gibt Gott seinem Volk das Gebot, sich zu erinnern – wo sie herkommen, Sklaverei und Exil, Gottes Rettung daraus und seine Versprechen für die Zukunft.

Für Israel (und für uns auch) ist die Erinnerung an die Sünden unserer Eltern der Schlüssel zu einem anderen Leben. Die Verleugnung schlimmer Ereignisse der Vergangenheit fördert nur, dass schädliche Muster und Verhaltensweisen in unseren Familien und Gemeinschaften andauern und weitergeführt werden. Und wenn wir uns für die Verleugnung entscheiden, geben wir Gottes erlösendem Wirken keinen Raum. Sich an die „Exil“-Phasen unseres Lebens und die Sünden unserer Vergangenheit zu erinnern, und manchmal auch um sie zu trauern, ist der erste Schritt, um Gottes Erlösung zu feiern, die er in unsere Geschichten eingewoben hat.

Wenn wir uns zu Recht an vergangene Fehler erinnern, öffnen wir uns für die Möglichkeit, die Dinge in unserem eigenen Leben, und dem zukünftiger Generationen, zu verändern. Und wir schaffen Raum, um Gottes wunderbare, treue Liebe zu feiern.

Originaltext BibleProject
Übersetzung von Sandra Weißsieker

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