Die Schöpfung durch die Brille antiker Kosmologie

Wirf einen genaueren Blick auf Genesis 1. Was lernen wir durch den ersten Satz der Bibel und die antike Kosmologie über Gottes Charakter?

Ein genauerer Blick auf 1.Mose 1

 

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.

Dies ist der erste Satz der Bibel und eine Zusammenfassung aller schöpferischen Handlungen Gottes in 1.Mose 1. Es ist eine ziemlich bekannte Aussage in der Bibel, aber halte doch mal einen Moment inne – denk mal darüber nach. Was kommt dir in den Sinn, wenn du liest, dass Gott den Himmel und die Erde geschaffen hat?

Stell dir den Himmel vor. Was siehst du? Wolken? Ein perlenbesetztes Tor? Goldene Mauern? Versuch dir mal eine mystische, geistliche Stadt vorzustellen, von der einige Menschen glauben, dass sie nach ihrem Tod dort hinkommen werden. Okay. Und jetzt vergiss das alles. Denn die biblischen Autoren hatten etwas ganz anderes im Sinn.

 

Der Himmel als „die Lüfte“

 

Im Hebräischen bedeutet das Wort „Himmel“ wörtlich „die Lüfte“. (Das hebräische Wort wird schamayim ausgesprochen.) Es ist der Ort, an dem Vögel fliegen und Wolken schweben. Von dort kommt der Regen und dort erscheinen die Sterne in der Nacht. Deshalb kann Gott zu Salomo sagen:

„Wenn ich den Himmel verschließe, wir es nicht mehr regnen“ (2. Chronik 7,13).

Und der Psalmist kann sagen:

„Wenn ich den Himmel betrachte … – den Mond und die Sterne, die du an ihren Platz gestellt hast“ (Psalm 8,4).

1.Mose 1,1 könnte genauso gut mit „Am Anfang schuf Gott die Lüfte und das Land“ übersetzt werden. Der Bereich, in dem die Menschen leben, ist das Land, und der Bereich darüber sind die Lüfte. Im weiteren Verlauf der Erzählung wird jeder Bereich separat behandelt, so dass sogar die Tiere entweder in Himmels- oder als Landtiere eingeteilt werden.

Das mag sich wenig überzeugend anfühlen. Gott hat den ganz normalen Himmel und das Land gemacht? Das ist ja ganz nett, aber irgendwie nicht so aufregend, wie wenn Gott einen jenseitigen Ort erschafft, an dem Engel leben. Aber überleg mal: Für die antiken LeserInnen muss dieser Himmel bezaubernd gewesen sein. Er war ein Reich jenseits der menschlichen Reichweite, ein Ort, an dem geistliche Wesen lebten. Die Gelehrten der Antike konnten den Himmel zwar bewundern, aber nicht aus erster Hand erfahren. Sie waren auf den Himmel angewiesen, um Wasser und Sonnenlicht zu bekommen, aber sie konnten seine Realität nicht erfassen. Aus dieser Perspektive bedeutete die Trennung von Himmel und Erde, dass Gott den Bereich, in dem die Menschen leben und den sie lernen zu beherrschen, von dem Bereich trennte, den die Menschen zwar sehen, aber niemals vollständig begreifen können. Der Himmel ist unermesslich und gewaltig. Er befindet sich buchstäblich über uns – in einer Position der Autorität – und wir sind für unser Leben auf ihn angewiesen.

Wenn man all das berücksichtigt, wird klar, warum das Wort „Himmel“ auch den Bereich Gottes beschreibt. Der Himmel ist eine perfekte Metapher für die Herrlichkeit und Transzendenz des Bereichs, in dem Gott regiert und wohnt. Die Verwendung desselben Wortes für „Lüfte“ und „Himmel“ ist eher eine Aussage über Gottes Würde und Autorität als eine Spekulation über den physischen Ort seiner Gegenwart. Zu sagen, dass Gott im Himmel wohnt, bedeutet, dass Gott die gleichen Eigenschaften wie der Himmel hat.

„Ist Gott nicht so hoch wie der Himmel?“ (Hiob 22,12a)

„Der HERR sieht vom Himmel herab auf die Menschen, um zu sehen, ob es wenigstens einen einzigen gibt, der klug ist und nach Gott fragt.“ (Psalm 14,2)

In der gesamten Bibel ist der Himmel der Ort, an dem die biblischen Autoren von Gottes Wohnung sprechen. Aber in 1.Mose 1 erschafft Gott keinen übernatürlichen Ort, an dem er getrennt von den Menschen lebt. In 1.Mose 1 geht es eigentlich darum, dass Gott den Himmel über uns und das Land unter uns erschafft. Und wenn du weiterliest, wirst du feststellen, dass Gott kommt, um mit den Menschen auf dem Land zu wohnen.

 

Das Land, das Meer und die Säulen der Erde

 

Das hebräische Wort für „die Erde“ in 1.Mose 1,1 ist ehrets. Im modernen Deutsch verwenden wir normalerweise das Wort Erde, um über den gesamten Planeten zu sprechen, aber ehrets bedeutet einfach „Land“. Heute wissen wir auch, dass die Erde eine sich im Raum drehende Kugel ist. In der antiken Vorstellung ist das Land scheibenförmig und wird manchmal als „Kreis der Erde“ bezeichnet (siehe Jesaja 40,22).

Geht man weit genug in irgendeine Richtung, landet man am Meer. Deshalb ist die Erde in der antiken Vorstellung von chaotischen Gewässern, den Meeren, umgeben. Das Meer ist ein weiterer Bereich, der für den Menschen nicht bewohnbar ist. Man kann ertrinken oder bei lebendigem Leib gefressen werden, wenn man sich zu weit hinauswagt. Die Vorstellung von chaotischen Gewässern war der antike Versuch, über völlige Unordnung nachzudenken, oder über das, was wir als „Nichts“ bezeichnen würden.

Aber was schützt das Land davor, einfach im Wasser zu versinken? Was bewahrt die geordnete Welt, in der die Menschen leben, davor, in Chaos und Unordnung zu versinken? Das Land wird von den „Säulen der Erde“ davor bewahrt, im Wasser zu versinken (siehe Psalm 75,4 und 1. Samuel 2,8). Das ist eine weitere antike Vorstellung, die wir in der Bibel finden.

Es mag uns seltsam oder sogar primitiv erscheinen, sich den Kosmos in diesen drei Ebenen – dem Himmel, dem Land und dem Meer – vorzustellen, aber das war nun mal die Kosmologie der biblischen Autoren. Wenn man versteht, wie die biblischen Autoren die Welt und ihre Entstehung sahen, wird vieles in den biblischen Geschichten klarer. Aber hier geht es nicht um eine Lektion in antiker Kosmologie, sondern darum, mehr von Gott zu verstehen.

 

Der Zweck der Schöpfung

 

Gottes Vision für die Schöpfung ist, dass Himmel und Erde eins werden. Nicht die Lüfte und das Land sollen eins sein, sondern Gottes Bereich (der Himmel) und unser Bereich (das Land) sollen vereint sein. Das ist das Bild, das wir in den ersten Kapiteln von 1.Mose sehen. In 1.Mose 2 lesen wir, dass der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen ist, um mit ihm über das Land zu herrschen. Das ist das vereinte Bild von Eden. Aber in 1. Mose 3 lesen wir die Geschichte, wie die Menschheit ihre Berufung aufgab und Eden verlassen musste. Hier wurden Himmel und Erde auf tragische Weise auseinandergerissen.

Genau deshalb ist es auch so bedeutsam, dass Jesus nach seiner Auferstehung in den Himmel aufgefahren ist. Jesus ist der Mensch, der das wahre Ebenbild Gottes war, der „in den Himmel aufgestiegen“ ist und „an Gottes rechter Seite“ sitzt und „alle Engel und Gewalten und Mächte beugen sich vor ihm“ (1. Petrus 3,22). Mit diesem Werk vereint Jesus Himmel und Erde und stellt Gottes Vision für die Schöpfung wieder her.

Jesus herrscht nun mit Gott im Himmel, aber das letzte Bild der Bibel zeigt, wie diese Herrschaft auf die Erde zurückkehrt.

„Dann sah ich einen ganz neuen Himmel und eine völlig neuartige Erde. Der erste Himmel und die erste Erde waren vergangen, auch das Meer gab es nicht mehr.“ (Offenbarung 21,1).

Dieses letzte Bild der Bibel ist ein Akt der Neuschöpfung – Himmel und Erde werden neu geschaffen und wieder vereint. Und schau mal: In dieser neuen Schöpfung gibt es kein Meer. (Bedenke, dass das Meer ein Bild für Chaos und Nichts ist.) In diesem Bild wird Jesus gezeigt, der die gesamte Schöpfung zu einer neuen Ganzheit zusammenführt und Gottes höchsten Zweck für die Schöpfung und die Menschheit erfüllt.

 

Im Original vom amerikanischen BibleProject Team
Übersetzung von Eva Dittmann

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