Was sind die Evangelien?

Die vier Evangelien sind die ersten Berichte über Jesu Leben, Tod und Auferstehung. Aber was für eine Art Geschichte ist ein „Evangelium”?

Die Antwort ist viel spannender und komplexer als wir bisher geglaubt haben.

 

Wenn du die Evangelien das erste Mal liest – oder auch schon das zwanzigste Mal – mach dich auf eine Überraschung gefasst. Jesus fordert immer wieder aufs Neue unsere Denkmuster heraus und nimmt unsere Erwartungen auseinander. Aber bevor du loslegst, lass uns etwas Zeit nehmen, um zu verstehen, was du da lesen wirst. Die vier Evangelien sind die ersten Berichte über Jesu Leben, Tod und Auferstehung. Aber was für eine Art Geschichte ist ein „Evangelium”?

 

Was ist ein „Evangelium”?

 

Als erstes sollten wir über die Bedeutung des Wortes „Evangelium” sprechen. Das Wort selbst stammt von dem griechischen Wort euangelion, das wörtlich „Gute Nachricht“ bedeutet. Im Neuen Testament bezieht sich der Begriff auf die Ankündigung, dass Jesus durch sein Leben, Sterben und seine Auferstehung das Reich Gottes in unsere Welt gebracht hat.

Er sagte: „Die Zeit ist gekommen, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt diese gute Nachricht!“ (Markus 1,15)
Es ist die Botschaft von seinem Sohn, Jesus Christus, unserem Herrn. Als Mensch geboren, ist er ein Nachkomme des Königs David. Durch die Kraft des Heiligen Geistes als Erster vom Tod erweckt, ist ihm die Macht übertragen, die ihm als Sohn Gottes zusteht. (Römer 1,3-4)
Interessanterweise leiten sowohl Jesus als auch Paulus dieses besondere Wort aus der Prophezeiung von Jesaja ab, in der die zukünftige Ankunft von Gottes Reich durch den Messias als „Gute Botschaft“ (s. Jesaja 52,7-10) beschrieben wird.

Die Evangelien sind nicht bloß historische Berichte, sondern sie proklamieren auch den besonderen Anspruch, dass Jesus der Messias Israels ist und der wahre Herr der Welt. Die Erzählungen der Evangelien wollen einerseits die historischen Ereignisse berichten und gleichzeitig den Leser dazu ermutigen, Jesus als Herrn anzuerkennen und sein Jünger zu werden.

 

Vier Merkmale der Evangelien

 

Die Evangelien haben vier Merkmale, die sie einzigartig machen unter den anderen biblischen Berichten und auch unter modernen biografischen Erzählungen. Erstens flechten sie Geschichten aus dem Alten Testament meisterhaft in die Geschichte Jesu ein. Zweitens sind die Geschichten darauf ausgelegt, Jesu Identität zu darzustellen. Drittens stellen alle Evangelien die Kreuzigung und Auferstehung Jesu als Höhepunkt der gesamten biblischen Geschichte dar. Und schließlich wurde die zeitliche Abfolge der Ereignisse jeweils so angeordnet, dass in jedem Evangelium besondere Merkmale von Jesu Charakter deutlich werden.

 

Merkmal 1 – Bezug auf das Alte Testament

 

Die Evangelien zeigen durch ständige Verweise auf das Alte Testament, wie Jesus die Geschichte des Alten Testamentes erfüllt. Dabei gehen die Verfasser offensichtlich davon aus, dass die Leser mit dem Alten Testament vertraut sind und verweisen darauf in unterschiedlicher Weise:

Direkte Zitate: Zum Beispiel beschreibt Matthäus die Heilungen Jesu (Matthäus 8,14-17) als direkte Erfüllung der Beschreibung Jesu als leidender Knecht durch Jesaja (Jesaja 53,4).

Raffinierte Andeutungen: In Markus 1,9-11 lesen wir, wie Jesus getauft wird und Gottes Stimme aus dem Himmel zu hören ist, „Du bist mein geliebter Sohn (Genesis 22,2), an dir habe ich große Freude. (Jesaja 42,1 & Psalm 2,7)“. Dieser Satz verbindet Satzteile aus drei alttestamentlichen Texten, um zu zeigen, dass Jesus derjenige Nachkomme Abrahams ist, der als messianischer König und Knecht beschrieben wird.

Erzählerische Parallelen: Matthäus präsentiert Jesus als jemanden, der größer ist als Mose, indem er sich bei der Erzählung von Jesu Geschichte an den Grundzügen von Moses Karriere orientiert. Mose und Jesus kommen beide an einem Punkt in ihrer Geschichte aus Ägypten, überqueren das Wasser, verbringen 40 Tage in der Wüste und verkünden die Lehren der Tora von einem Berg aus.

 

Merkmal 2 – Aussagen über Jesu Identität

 

Die Autoren der Evangelien machen manchmal explizite Aussagen bezüglich Jesu Identität. Zum Beispiel in Markus 1,1: „So beginnt die gute Botschaft von Jesus Christus, dem Sohn Gottes.“ Häufiger passiert dies jedoch auf indirekte Weise. Hier sind ein paar Beispiele:

• Erzählungen über Wunder, die Jesu Macht über die Schöpfung zeigen
• Wiedergabe von Jesu Worten: Lehren, Gleichnisse, Dialoge
• Zeugnisse von Personen, deren Leben von Jesus berührt und verändert wurden
• Aussagen von Gott: „Dies ist mein geliebter Sohn“ (Matthäus 3,17)
• Aussagen der Jünger: „Wer ist dieser Mann?“ (Matthäus 8,27)
• Aussagen von Dämonen: „Was willst du von uns, Sohn Gottes?“ (Matthäus 8,29)
• Aussagen der Bewohner Nazareths: „Ist er denn nicht der Sohn des Zimmermanns?“ (Matthäus 13,55)
• Aussage der kanaanitischen Frau: „Herr, du Sohn Davids“ (Matthäus 15,22)
• Aussage von Petrus: „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.“ (Matthäus 16,16)
• Aussage des Hohepriesters: „Bist du der Messias, der Sohn Gottes?“ (Matthäus 26,63)
• Aussage von Pilatus: „Bist du der König der Juden?“ (Matthäus 27,11)
• Aussage eines römischen Soldaten: „Dieser Mann war wirklich Gottes Sohn!“ (Matthäus 27,54)

 

Merkmal 3 – der Höhepunkt der biblischen Geschichte

Jedes der vier Evangelien präsentiert die Kreuzigung und Auferstehung Jesu als den Höhepunkt der gesamten biblischen Geschichte.
Die ca. drei Jahre, in denen Jesus das Königreich Gottes ankündigt, beschreibt Markus in seinem Evangelium über zehn Kapitel hinweg. In weiteren sechs Kapiteln beschreibt er die sieben Tage, die Jesus vor seinem Tod in Jerusalem verbringt.

Matthäus kündigt bereits früh in seinem Evangelium den Tod Jesu durch die führenden Israeliten an (Matthäus 12,14). Und Jesus selbst kündigt viermal (Matthäus 16,21; 16,27; 17,22-23; 20,18-19) seinen Tod als den Moment an, in dem er König werden wird (Matthäus 27,37).

 

Merkmal 4 – Anordnung der Ereignisse

 

Die vier Evangelien beanspruchen für sich, die realen historischen Ereignisse zu berichten. Dennoch hat jeder der Autoren die einzelnen Geschichten bearbeitet, arrangiert und so dargestellt, dass sie die besonderen Facetten von Jesu Charakter unterstreichen. In späteren Blogs werden wir auf die einzelnen Aspekte der jeweiligen Evangelien eingehen, aber hier vorab die Kurzfassung:

• Matthäus porträtiert Jesus als jemanden, der größer ist als Mose, der die Verheißungen der alten Schriften erfüllt und dessen Auferstehung ihn zum König des Himmels und der Erde gemacht hat.
• Markus betont die Rätsel und Missverständnisse, die Jesus‘ Ankündigungen von Gottes Königreich verursachen. Er präsentiert Jesus als den unerwarteten Messias und betont das Paradox, dass der erhabene Messias nur in dem erniedrigten und gekreuzigten Jesus zu finden ist.
• Lukas betont, dass Jesus das Evangelium zu allen Nationen bringt. Er zeigt, dass Jesus durch den Heiligen Geist dazu bevollmächtigt wurde, die alttestamentliche Verheißung zu erfüllen, Gottes Rettung über Israel hinaus zu allen Nationen zu bringen.
• Johannes zeigt Jesus als den Mensch gewordenen Gott, indem er auf die Zeichen hinweist, die Jesus‘ messianischen Anspruch bestätigen. Er betont außerdem, dass Jesus allen das ewige Leben anbietet, die ihm vertrauen.

 

Wie man die Evangelien am besten liest

 

Wir haben hier drei Tipps für dich, die es dir leichter machen sollen, die Evangelien zu lesen und zu verstehen.

 

Tipp I – Erkenne sich wiederholende Schlüsselwörter und -themen

 

Die Verfasser der Evangelien haben ihre Berichte jeweils zusammengesetzt aus etlichen kleineren Erzählungen über Jesu Lehren und Wunder. Diese haben sie durch wiederholte Schlüsselbegriffe und -gedanken miteinander verbunden, um die übergeordneten Themen zu betonen. Suche nach diesen wiederholten Begriffen und Gedanken in den kleineren Erzählungen über Jesus und frage dich, „Was will der Autor uns durch diese einzelnen Geschichten über Jesus sagen?“ Wie hat der Autor des Evangeliums diese einzelnen Geschichten miteinander verbunden und was will er mir damit sagen, dass er sie so zusammen aufgeschrieben hat?

Beispiel I – Erzählungen werden durch wiederholte Begriffe miteinander verbunden

• Lukas 3,21-22: Jesu Taufe: Er wird als „Gottes geliebter Sohn“ bezeichnet.
• Lukas 3,23-38: Jesu Abstammung reicht bis zu Adam, einem „Sohn Gottes“.
• Lukas 4,1-13: Jesus wird auf die Probe gestellt: Der Satan stellt Jesu Identität als „Sohn Gottes“ in Frage.
• Lukas 4,14-32: Jesus wird in seiner Heimatstadt Nazareth abgelehnt mit der Frage, „Wessen Sohn ist das?“
• Lukas 4,33-41: Jesus treibt Dämonen aus, die ihn den „Sohn Gottes“ nennen.

Das gemeinsame Thema: Lukas hat diese Geschichten bewusst im Zusammenhang erzählt, um zu betonen, dass Jesus der Sohn Gottes ist, Israels Messias und der Vertreter der Menschheit. Allerdings wird in diesen Geschichten auch nach seiner Identität gefragt, sie angezweifelt und sogar abgelehnt.

Beispiel II – Erzählungen werden durch wiederholte Themen verbunden

• Matthäus 11,1-19: Johannes der Täufer hinterfragt, ob Jesus der Messias ist.
• Matthäus 11,20-30: Jesus’ Reaktion darauf, dass einige Städte ihn als den Messias ablehnen
• Matthäus 12: Vier Geschichten, wie die Pharisäer Jesus ablehnen und eine Geschichte, wie Kranke ihn als Messias anerkennen (12,15-23).
• Matthäus 13: Jesus erzählt das Gleichnis der vier verschiedenen Ackerböden

Das gemeinsame Thema: Viele Menschen zweifeln Jesus an oder lehnen ihn ab. Aber diejenigen, die seine Gnade in ihrem Leben erlebt haben, akzeptieren ihn. Diese unterschiedlichen Reaktionen erklärt Jesus in Gleichnissen und fordert die Menschen heraus, genau zuzuhören.

 

Tipp II – Achte darauf, wie die Charaktere auf Jesus reagieren

 

Anstatt dir einfach zu sagen, wie du reagieren sollst, benutzen die Autoren die verschiedenen Reaktionen anderer als Beispiele (positiv und negativ). Lass dir nach jeder kurzen Erzählung einmal die folgenden Fragen durch den Kopf gehen:

• Wie reagieren die verschiedenen Personen in dieser Geschichte auf Jesus?
• Was ist ihre Motivation?
• Was ist das Ergebnis?
• Spiegeln sich meine eigenen Reaktionen in diesen Charakteren wider?

 

Tipp III – Lies, lies nochmal, und nochmal!

 

Die Berichte der Evangelien sind dazu gedacht, viele Male gelesen, und schließlich sogar auswendig gelernt zu werden. Manche Erkenntnisse wirst du nur dann gewinnen, wenn du die Evangelien viele Male gelesen hast und aufmerksam nach den sich wiederholenden Schlüsselbegriffen und -themen Ausschau hältst. Lies die Texte langsam, dann schnell, dann nochmal langsam. Du kannst gar nicht tief genug in die vier Evangelien eintauchen!

 

Zum Mitnehmen

 

Zur Erinnerung: Die Evangelisten hatten ein Ziel mit ihren Aufzeichnungen: Sie wollten ein überzeugendes Bild von Jesus zeichnen, so dass auch du ihn anerkennst und ihm nachfolgst. Zwar gibt es nur wenige eindeutige Aussagen der Autoren über Jesus (Abschnitte wie Mk 1,1 sind eher die Ausnahme), trotzdem wollen die Autoren, dass du Jesus auf sehr authentische Art und Weise erleben kannst. So subtil diese Botschaften in den Evangelien manchmal sind, eines ist sehr offensichtlich: Sie erfordern eine Antwort des Lesers.

Ray Lubeck drückt es am besten aus in seinem Buch Read the Bible for a Change: Understanding and Responding to God’s Word: “Die Christus-Geschichte dient als ein Instrument, um das Verständnis des Lesers von Gott, der Welt und sich selbst zu verändern im Licht dessen, was Jesus getan hat. Daher ist das Ziel der Evangelien, die Gute Nachricht von dem zu verkünden, was Gott in und durch Jesus getan hat, damit Menschen mit Reue und Umkehr darauf reagieren. Der entscheidende Unterschied zu einer bloßen Biografie ist der, dass sie [die Evangelien] eine Antwort des Lesers fordern.“

Auf der einen Seite ist die Bibel mit den vier Evangelien eines der ernsthaftesten Bücher, das du jemals lesen wirst, andererseits ist es auch die beste Botschaft, die du je hören wirst. Durch seine Texte wird Jesus lebendig und lädt uns zu einem spannenden und herausfordernden Abenteuer ein, nämlich ihm nachzufolgen. Diese Geschichten und Lehren haben das Potenzial, dich du verändern und zu einer völlig neuen Person zu formen. Vorausgesetzt, du lässt es zu.

Originaltext von Tim Mackie
Übersetzung von Sandra Weißsieker

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