Stell dir vor, du holst dir eine Tasse Kaffee, lässt dich in deinen Lieblingsstuhl sinken und widmest dich einem deiner Lieblingspsalmen oder auch der nächsten Bibelstelle, die irgendein Leseplan dir zugeteilt hat. Für einige von uns ist das – insbesondere seit Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg und seit der Reformationszeit – der Inbegriff der idealen Art und Weise, sich mit der Bibel zu befassen.
Du liest die Bibel ganz für dich alleine, mit niemandem um dich herum.
Das ist deine Stille Zeit für dein ganz persönliches Bibelstudium. Es gibt nur dich und den Text.
Diese Art des Bibelstudiums ist erst seit ein paar hundert Jahren überhaupt möglich. Früher war es üblich, dass die Menschen ihre Bibel laut vorgelesen bekamen. Oder sie lernten die biblischen Geschichten kennen, indem ihnen diese durch Gemälde, Ikonen und andere bildliche Darstellungen in Kirchen nahegebracht wurden. Und von mosaischer Zeit bis in die neutestamentliche Ära hinein war das öffentliche Vorlesen der Schrift üblicherweise die Art, wie die Menschen mit biblischen Texten in Kontakt kamen. Dies hielt danach für etwa weitere 1.500 Jahre an – so lange, bis wir lernten, wie man Bücher druckt.
Ja, die Bibel wurde lange, bevor es Bücher gab, geschaffen! Autoren und Redakteure sahen die Bibel für die öffentliche Lesung vor. Daher stellen die Hebräische Bibel und das Neue Testament alle beide eine Sammlung öffentlicher Literatur dar.
Sollte uns dieses Konzept vielleicht irgendetwas darüber sagen, wie Gott möchte, dass wir lernen? Oder auch darüber, mit wem zusammen Gott uns lernen sehen möchte? Und was heißt das dann für unsere persönliche „Stille Zeit“ in der Bibel?
Schauen wir uns das einmal näher an.
Die erste öffentliche Schriftlesung in der Bibel
Die Israeliten erfahren ein großartiges Rettungsereignis, als Gott jeden einzelnen von ihnen aus der Sklaverei in Ägypten befreit. Fast wie bei einer Art von Mose angeführten Taufe für die gesamte Gemeinschaft durchqueren sie wohlbehalten das Wasser (Exodus 14) und beginnen ihre Wanderung durch die Wüste, auf dem Weg in das Land, das Gott ihnen versprochen hat.
Zu Beginn ihrer Wanderung greifen die Amalekiter sie an (Exodus 17, 8-16). Doch Gott rettet sie und erteilt Mose die Anweisung, die ganze Geschichte auf einer Schriftrolle niederzuschreiben. Unmittelbar darauf weist er Mose an, diese Josua, einem weiteren Anführer der Israeliten, laut vorzulesen.
Zuerst soll alles aufgeschrieben werden. Warum? Um es den Anderen laut vorlesen zu können. Zwar hat dieses Vorgehen seinen Ursprung vor langer Zeit, aber es lebt fort bis zum heutigen Tag: Durch die mündliche Überlieferung der Ereignisse und die dadurch gestärkte gemeinsame Erinnerungskultur.
Gott führt die Israeliten auf den Berg Sinai, wo er sie in eine Bündnispartnerschaft mit sich einlädt (Exodus 19 – 24). Gott übergibt Mose die Partnerschaftsbestimmungen, genannt Torah (hebräisch: tora – Lehre, Gesetz). Mose gibt daraufhin diese Bestimmungen mündlich an das Volk weiter und schreibt sie in Anwesenheit des Volkes nieder (Exodus 24, 3-4).
Die öffentliche und laute Toralesung wird eine feste Gepflogenheit bei den Israeliten. Als ganze Nation feiern sie zusammen den vorgeschriebenen wöchentlichen Sabbat und die jährlich wiederkehrenden Feste, bei denen stets laut aus der Tora vorgelesen und gemeinschaftlich daraus gesungen wird. Männer, Frauen, Kinder und auch Fremde, die als Nachbarn mit den Israeliten zusammenleben, versammeln sich miteinander, um zuzuhören, wenn die Schrift in der Öffentlichkeit laut gelesen wird (Deuteronomium 31, 10 – 13).
Sie hören zu, um zu lernen. Sie hören zu, um zu verstehen. Sie hören zu, um sich zu erinnern. Sie hören zu, um sich durch das gemeinschaftliche Eintauchen in die gemeinsame Geschichte verändern zu lassen.
Die Israeliten sind keine Sklaven in Ägypten mehr. Gott gibt ihnen eine neue Identität als königliche Priester (Exodus 19,6). Und er gibt ihnen eine neue Geschichte, an der sie ihr Leben ausrichten sollen. Alle sieben Jahre erinnern sie sich gegenseitig an diese Geschichte – woher sie gekommen sind, wer sie sind und was die neue Zukunft ist, für die zu leben sie berufen sind.
Man erinnert sich an den Brauch, aber dann wird er vergessen
Durch die ganze Geschichte Israels wird der Brauch, dass die Schrift in Gemeinschaft gelesen und gehört wird, beibehalten. Als das Volk schließlich das verheißene Land betritt, ist das auch wieder der Fall. Josua versammelt das Volk und alle hören zu, als laut aus der Schrift vorgelesen wird. Dies geschieht, damit die Israeliten sich in Erinnerung rufen, woher sie gekommen sind und wie sie als Teil dieser neuen Geschichte weiterleben können (Josua 8,30-35).
Nach Josuas Tod allerdings finden wir keine Überlieferungen mehr, dass das Volk sich versammelt, um Gottes Wort zu hören. Stattdessen sehen wir, dass das Volk seine Geschichte vergisst, und eine ganze Generation wächst heran, die weder ihren Gott kennt, noch das, was er für sie getan hat (Richter 2,10).
Jahrhunderte später entdeckt ein König namens Josia die Schriftrolle des Gesetzes wieder neu (2. Könige 22 – 23). Er ist davon so erschüttert, dass er das Volk Israel anweist, den Brauch wieder aufzunehmen. Dies löst eine Erneuerungsbewegung für das öffentliche Lesen der Schrift aus.
Jahre später versammeln Esra und Nehemia das Volk, damit es die Schriftrollen vorgelesen bekommt. Beim Zuhören versetzen sich die Menschen zurück in ihre Geschichte. Die Schriften erinnern sie daran, wer sie sind und wie sie leben sollen – und wieder geschieht das dadurch, dass ihnen die Schrift öffentlich vorgelesen wird (Nehemia 8,8).
Die öffentliche Schriftlesung im Neuen Testament
Die öffentliche Schriftlesung wurde ein integraler Bestandteil des jüdischen Lebens und ist es auch heute noch. Immer, wenn sie sich wöchentlich in den Synagogen versammelten, hörten die jüdischen Frauen, Kinder und Männer eine Schriftlesung (siehe z.B. Apostelgeschichte 13,15).
Jesus selbst praktizierte diesen Brauch ebenfalls! Er begann sein öffentliches Wirken sogar mit einer wöchentlichen Schriftlesung. Jesus las aus der Schriftrolle Jesajas und verkündete allen, dass diese Worte auf ihn hindeuteten (Lukas 4,16 – 30).
Dieser Tradition folgend lasen die Nachfolger Jesu die Schriften der Apostel in ihren frühen Gottesdienstversammlungen ebenfalls öffentlich vor.
Für den Apostel Paulus hatte dieser gemeinschaftliche Brauch besondere Bedeutung und er erinnerte seine Freunde des Öfteren, seine Briefe allen potentiellen Zuhörern laut vorzulesen (z.B. Kolosser 4,16, 1. Thessalonicher 5,27, 1. Timotheus 4,13 – 14).
Lernen in Gemeinschaft
Wenn Gott vorgesehen hat, dass diese Geschichten laut und mit unterschiedlichen Stimmen vorgetragen, und auch vor dem Hintergrund verschiedener Lebenserfahrungen und Ethnien sowie unter ganz unterschiedlichen sozio-ökonomischen Umständen gelesen werden sollten, was sagt uns das dann darüber, wie er will, dass wir lernen?
Vielleicht meint er mit der Aussage, dass jeder Mensch in seinem Bild geschaffen ist, gewissermaßen auch, dass wir über ihn etwas lernen können, indem wir uns gegenseitig zuhören und voneinander lernen. Vielleicht will er uns damit sagen, dass keine einzelne Person jemals ganz auf sich alleine gestellt alles verstehen wird, was Gott uns in der Schrift lehren möchte. Vielleicht hat das, was er uns beibringen will, ganz elementar mit unserer Beziehung zu anderen zu tun.
Jeder Mensch ist in seiner Perspektive limitiert und das ist auch gar nicht schlimm! Nein, es ist sogar gut – denn wenn keiner die volle Erkenntnis über alles hat, dann braucht jeder den Anderen, um lernen zu können. Für sich alleine in der Bibel zu lesen ist hilfreich und Frucht bringend, von daher sollten wir das auch weiter beibehalten. Aber wenn wir nicht zusätzlich auch in einer Gemeinschaft lesen, dann verpassen wir zumindest die Möglichkeit, die Bibel so zu erfahren, wie es vom Konzept her ursprünglich geplant war. Es ist naheliegend, dass das Bibelstudium als Einzelperson (tragischerweise) oft das verfremdet, was Gott sagt, oder es auch gar nicht erfassen kann.
Wie können wir die Bibel noch mehr in Gemeinschaft lesen?
Ein Weg wäre, einfach bei den Gemeindeversammlungen öffentlich aus der Bibel vorzulesen, genau wie die Schriftlesung ursprünglich auch vorgesehen war. Des Weiteren können wir uns damit befassen, was andere Bibelausleger zu sagen haben, die im Lauf der Geschichte tätig waren.
Wie haben die frühen jüdischen Gemeinden und die Nachfolger Jesu verschiedene biblische Texte aufgefasst? Es scheint, dass Gott durch die Konzeption der Bibel wollte, dass wir auf seine Worte hören, gleichzeitig aber auch miteinander darüber ins Gespräch kommen. Von daher ist beides hilfreich: Das Lesen in der Bibel, aber auch der Austausch mit anderen Menschen, die der Schriftlesung mit uns gemeinsam zuhören.
Des Weiteren können wir auch kulturübergreifend in Gemeinschaft mit anderen Menschen lesen, die einen ganz anderen Erfahrungshorizont haben als wir, die aus ganz anderen Ländern stammen, einen anderen ethnischen Ursprung aufweisen, anderen Geschlechtes sind oder einen anderen sozioökonomischen Hintergrund haben – und noch dazu ganz andere theologische Perspektiven und Traditionen mitbringen. Jeder Mensch ist von Gott geschaffen und geliebt und von daher ist jede Person es wert, dass man sie respektiert und ihr zuhört. Das alles sind Wege, der Bibel als gemeinschaftlicher Literatur Gehör zu schenken.
Fazit
Was bedeutet das nun für das Bibelstudium in unserer persönlichen Stillen Zeit?
Stilles, persönliches Lesen ist gut, genauso wie es durchaus gut sein kann, wenn man alleine singt. Aber wenn ein einzelner Sänger versucht, ein Musikstück zu singen, das für einen ganzen Chor geschrieben wurde, dann wird sich das entweder merkwürdig anhören oder der Vortrag wird viele Teile des Musikstücks außer Acht lassen. Alleine zu lesen ist hilfreich und intellektuell einfacher, aber dabei ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir vieles davon verpassen, was Gott uns zeigen möchte. Wenn wir unser persönliches Lesen mit dem Lesen in Gemeinschaft kombinieren und sogar den gemeinschaftlichen Aspekt etwas höher gewichten, dann wird uns das ein tieferes Verständnis der Bibel ermöglichen.
Und ja, Lesen in Gemeinschaft bedeutet lautes Vorlesen in der Öffentlichkeit. Genau wie es die Menschen seit Tausenden von Jahren praktiziert haben, hören wir der Schrift zu und sprechen dann zusammen darüber, was wir gehört haben. Öffentliches Lesen und Hören der Bibeltexte führt dazu, dass wir in der Gemeinschaft darüber sprechen.
Im ganzen Verlauf der biblischen Geschichte hat sich Gottes Volk immer wieder zusammengefunden, um sich auf ihre gemeinsame Geschichte zu besinnen und sich daran zu erinnern, wer sie sind. Und das Lesen der Schrift mit anderen Nachfolgern Jesu erinnert uns an die Geschichte, in der wir leben – eine Geschichte, die das Leben von Millionen Menschen komplett verändert hat, eine Geschichte, die gleichzeitig über jede Zeit, jedes Alter, jedes Geschlecht und jede Kultur hinausgeht, aber gleichzeitig auch in sich aufnimmt.
Original von Shara Drimalla & BibleProject Team
Übersetzung von Julia Pfeifer