Als weiteres Beispiel dafür, wie es aussieht, wenn man dem Übeltäter auf kreative Weise Widerstand leistet, sagt Jesus: „wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dem lass auch den Mantel.“ (6) Er zeigt den Menschen, wie man schädlicher Gier mit kreativer Großzügigkeit widerstehen kann.
In diesem Fall erniedrigt eine gierige Person eine arme Person mit einer ungerechten Klage und verlangt ihr Innengewand als Pfand. Das hebräische Bibelgesetz erlaubt es den Israeliten zwar, auch das Obergewand oder den Mantel einer Person als Pfand für ein Darlehen zu verwenden, doch der Mantel muss bis zum Einbruch der Nacht zurückgegeben werden, da die Person ihn wahrscheinlich zum Aufwärmen braucht. (7) Es wäre also äußerst großzügig, den Mantel freiwillig abzugeben. Jesus lehrt eine Lebensweise, die auf die Kraft einer großzügigen Antwort vertraut und Gier nicht mit Gier vergilt.
Einige legen Jesu Anweisung sogar so aus, dass jemand, der sowohl sein Hemd als auch seinen Mantel abgibt, sich vollständig entkleiden würde – was „in der palästinensisch-jüdischen Gesellschaft eine unerträgliche Schande ist.“ (8) Unabhängig davon, ob Jesus tatsächlich andeutet, dass jemand nackt erscheinen soll oder nicht: Wer Mantel und Hemd abgibt, verzichtet wahrscheinlich auf seinen wichtigsten Schutz gegen die Kälte – und auf ein gewisses Maß an sozialem Ansehen. Damit begibt sich diese Person in eine überaus verletzliche Position. Diese offensichtliche Verwundbarkeit zwingt den Widersacher dazu, sich öffentlich mit seiner rücksichtslosen Gier auseinanderzusetzen – indem er dem anderen buchstäblich die Kleider vom Leib reißt. (9) Die radikale Großzügigkeit dieser Person steht so in deutlichem Kontrast zum geizigen Festhalten des Gegners.
Für einen Unterdrücker die Extrameile gehen
Als letztes Beispiel dafür, wie man sich einem Übeltäter nicht gleichermaßen widersetzt, sagt Jesus: „Und wenn dich jemand zwingt, eine Meile mitzugehen, mit dem geh zwei.“ (10) In der Welt des 1. Jahrhunderts konnten römische Soldaten Menschen dazu zwingen, Lasten für sie bis zu einer römischen Meile (1.000 Schritte) zu tragen. (11) Durch diese Praxis wurde der Mensch zu einem Objekt gemacht – zu einem Zwangsarbeiter unter der Herrschaft der römischen Macht.
Jesus spricht hier zu einer geplagten Gruppe von Juden, die über Jahrhunderte hinweg unter fremder Besatzung gelitten hatten. Nach all der Erniedrigung, Schikane und Unterdrückung durch die römischen Besatzer dürfte seine Aufforderung, sich nicht nur zu unterwerfen, sondern über das geforderte Maß hinaus hinzugeben, auf Erstaunen gestoßen sein.
Doch das Tragen der Last eines Soldaten für eine zusätzliche Meile verändert die Dynamik der Begegnung. Statt die erniedrigende Behandlung passiv zu erdulden, leisten diejenigen, die Jesu Anweisung folgen, kreativen Widerstand gegen die Unterdrückung. Sie beanspruchen ihre Würde, indem sie sich bewusst entscheiden, die zweite Meile zu gehen.
Sie begegnen dem römischen Soldaten mit Großzügigkeit – so, wie man auch Freunde oder Familienmitglieder behandeln würde.
Tatsächlich fasst Jesus seine Lehre in einer allgemeinen Ermutigung an seine Anhänger zusammen, Großzügigkeit zu einem zentralen Merkmal gelingender Beziehungen zu machen. (12) Dabei nimmt er Bezug auf Sprüche 25,21–22:
„Wenn dein Feind hungrig ist, gib ihm zu essen, wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken; so sammelst du glühende Kohlen auf seinen Kopf, und Jahwe vergilt es dir.“
Würde mit Liebe und Großzügigkeit geltend machen
In allen drei Beispielen Jesu würde ein „Widerstand in gleicher Form“ den Kreislauf des Leidens nur fortsetzen. Wie Martin Luther King Jr. sagt:
„Die größte Schwäche der Gewalt ist, dass sie eine absteigende Spirale ist, die genau das hervorbringt, was sie zu zerstören sucht. Anstatt das Böse zu vermindern, vervielfacht sie es. … Gewalt mit Gewalt zu erwidern, vervielfacht die Gewalt und fügt einer Nacht, die bereits sternenlos ist, noch größere Dunkelheit hinzu.“ (14)
Jesus lädt seine Jüngerinnen und Jünger dazu ein, sich auf die Wege von Gottes umgekehrtem Königreich einzulassen. Statt Beleidigungen oder Ungerechtigkeiten zu vergelten, ruft er sie zu kreativen Akten des Widerstands auf – getragen von Liebe und Großzügigkeit.
Die andere Wange hinzuhalten bedeutet, jeden Menschen als ein Gegenüber zu sehen, das nach Gottes Ebenbild geschaffen wurde – und stets nach seinem höchsten Wohl zu streben.
Wie Anna Case-Winters (15) bemerkt, scheint diese Haltung eine Person zunächst in die Rolle des „passiven Opfers“ zu versetzen. Tatsächlich aber, so schreibt sie, macht es diese Person „zu einem Vermittler, der seine Macht auf eine positive und unkonventionelle Art und Weise geltend macht. Was vielleicht eine Demütigung gewesen wäre, wird mit einem ‚würdevollen‘ Akt des Gebens beantwortet … und einer impliziten Einladung an den Feind, den Aggressor oder den Aufdringlichen zu einer anderen Art der Interaktion.“ (16)
Jesus lehrt uns, weder in passiver Angst zurückzuschrecken noch mit gewalttätigen Worten oder Taten zurückzuschlagen. Stattdessen können wir – wie er selbst – Feinden mit Kreativität, Liebe und Großzügigkeit begegnen. Indem wir sie wie Freunde behandeln, laden wir sie ein, über ihr Verhalten nachzudenken und eine neue Art der Begegnung mit uns zu erwägen.
Beziehungen wiederherstellen
Die Lehre Jesu, „dann halte auch die andere Wange hin“, zielt darauf ab, die Harmonie wiederherzustellen, die Gott seit Beginn der Schöpfung für die Menschheit beabsichtigt hat.
Als die Menschen von dem Baum nahmen, den sie gemäß Gottes Anweisung meiden sollten, entschieden sie sich bewusst, Gottes Weisheit abzulehnen – und das zu tun, was in ihren eigenen Augen richtig war. Diese Verweigerung führte rasch in einen Kreislauf von Schaden und Vergeltung.
Ein frühes Beispiel für dieses Verlangen nach Rache und die Eskalation von Gewalt ist die Geschichte von Lamech, der einen Mann tötete, weil dieser ihn geschlagen hatte. (17) Das Ziel der Lex Talionis – „Auge um Auge und Zahn um Zahn“ (1) – bestand jedoch darin, die Eskalation gewaltsamer Vergeltung zu begrenzen. Mit anderen Worten: Sie sollte den sich ständig steigernden Kreislauf der Gewalt durchbrechen, indem sie persönliche Rache verhinderte und sicherstellte, dass die Strafe niemals größer war als das Verbrechen.
Die Absicht, die der Lex Talionis zugrunde liegt, zu verwirklichen, bedeutet, nach wahrer Gerechtigkeit zu streben. Und wahre Gerechtigkeit verändert die Beziehung zwischen Opfer und Täter – sie führt zu Wiedergutmachung für alle Beteiligten. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür finden wir in der Geschichte von Josef.
Josef hält die andere Wange hin
Aus Eifersucht über die Bevorzugung Josefs durch ihren Vater verkaufen seine Halbbrüder ihn in die Sklaverei nach Ägypten, wo er zu einer einflussreichen Position aufsteigt.
Als seine Halbbrüder während einer Hungersnot nach Ägypten kommen, um Lebensmittel zu kaufen, erkennen sie Josef nicht – der sich hinter der Fassade eines ägyptischen Beamten verbirgt. Aber Josef erkennt sie. Und er steht vor einer Entscheidung.
Er könnte seine Macht als hoher Regierungsbeamter nutzen, um Rache zu üben. Er könnte es den Gerichten überlassen, Recht zu sprechen. Er könnte die Beleidigung seiner Halbbrüder einfach ignorieren und so tun, als sei nichts geschehen.
Oder: Er könnte „die andere Wange hinhalten“, indem er sie auf die Probe stellt. Josef wählt diese letzte Möglichkeit – er hält die andere Wange hin. Er will sehen, ob sie ihr früheres Vergehen wiederholen würden, indem sie zulassen, dass sein einziger ganz leiblicher Bruder Benjamin als Sklave genommen wird. (18) Josef gibt seinen Halbbrüdern die Gelegenheit, sich mit dem auseinanderzusetzen, was sie ihm angetan haben (19), und sich für ein neues, gerechteres Handeln zu entscheiden.
Und als sie zeigen, wie sehr sie sich verändert haben, fließen heilende Tränen der Liebe und der Trauer über Josefs Gesicht – während er ihnen großzügig Vergebung anbietet. (20)
Jesus hält die andere Wange hin
Jesus selbst zeigt seinen Nachfolgerinnen und Nachfolgern, was es bedeutet, die andere Wange hinzuhalten. Manchmal, wenn seine Gegner ihn vernichten wollen, entscheidet er sich, sich zurückzuziehen und ihrem Zugriff zu entgehen. In weiser Voraussicht erkennt er, wann es besser ist, abzuwarten, statt unmittelbar auf eine Bedrohung zu reagieren.
In anderen Situationen aber begegnet er seinen Gegnern direkt – mit kreativer Großzügigkeit. In der ultimativen Demonstration, die andere Wange hinzuhalten, lässt Jesus es zu, dass seine Feinde ihn fälschlich anklagen, verhaften und verurteilen, bevor sie ihn öffentlich erniedrigen und brutal an einem römischen Kreuz ermorden. Während all dies geschieht, hält Jesus denen, die ihn schlagen, die andere Wange hin. Er opfert seine Kleidung und trägt sein Kreuz eine Meile weiter. (21) Dabei ist er keineswegs passiv oder willenlos – er ist kein hilfloses Opfer. Mit großer innerer Kraft nimmt er die Misshandlung durch seine Widersacher bewusst in Kauf, weil er weiß, dass sie ihm weder seine Ehre noch sein Leben nehmen können. Jesus gibt sein Leben aktiv hin. Er übt keine Vergeltung und zahlt nichts heim für das Unrecht, das ihm widerfährt. Stattdessen liebt er seine Feinde bis zum Ende – und bittet mit seinem letzten Atemzug um ihre Vergebung. (22)
Die Antwort der Liebe auf Ungerechtigkeit
Für eine misshandelte Frau, die verzweifelt nach Hilfe sucht, kann es der klügste Schritt sein, sich selbst – und andere Betroffene – aus der gefährlichen Situation zu befreien. Damit stärkt sie nicht nur ihre Selbstbestimmung, sondern handelt womöglich auf die liebevollste Weise, die ihrem Gegner möglich ist: Indem sie ihn daran hindert, weiter Schaden zuzufügen – an sich selbst, an anderen und letztlich auch an sich. Das Prinzip, die andere Wange hinzuhalten, lässt sich auch auf Situationen anwenden, in denen andere Leid erfahren.
Als Jesus im Tempel auf Ungerechtigkeit trifft, wirft er die Tische der Geldwechsler um. Er erinnert sie an Gottes Absicht, dass der Tempel ein „Haus des Gebets“ für alle Menschen sein soll. (23) Sein Handeln ist zwar heftig, aber weder verletzend noch rachsüchtig. Indem er die Geldwechsler mit ihrer Ungerechtigkeit konfrontiert, fordert er sie auf, ihr Verhalten zu überdenken. Wenn wir sehen, dass Menschen misshandelt werden, ist die Versuchung groß, entweder den Täter zu bekämpfen oder die Situation zu meiden. Doch das Prinzip, die andere Wange hinzuhalten, ruft uns dazu auf, uns solidarisch mit den Opfern zu zeigen – indem wir Ungerechtigkeit aufdecken und uns Unterdrückern entgegenstellen.
Ob er sich unterwirft, zurückzieht oder konfrontiert – Jesus bestimmt stets selbst die Bedingungen der Begegnung. Und er handelt immer aus Liebe – zum Wohle der anderen, selbst seiner Feinde.
Der Theologe Naim Ateek bringt es auf den Punkt:
„Liebe bedeutet Widerstand gegen Ungerechtigkeit mit gewaltfreien Methoden. Das geschieht nicht aus Hass oder um den Feind zu vernichten, sondern um die Verursacher von Unrecht zu zwingen, das Unrecht rückgängig zu machen und sich zu verpflichten, das zu tun, was gerecht und richtig ist.“ (24)
Letztlich lesen wir in der Bibel von einem zukünftigen Tag, an dem „nichts mehr von Gewalt“ gehört wird (25) und niemand mehr „Böses tun“ wird (26) – wenn Gott seine ursprüngliche Absicht erneuert: dass Menschen für immer in einer Welt leben, in der jeder zum höchsten Wohl des anderen strebt. (27) Das ist der Weg von Gottes Königreich. Und Jesus sagt, dieses Reich ist nahe – es beginnt jetzt.
Die Erneuerung ist zwar noch nicht vollendet, aber sie hat bereits begonnen. Und wir können heute, jeden Tag, in sie eintreten und sie leben. Auch wenn uns nicht jeder mit der Liebe und Würde behandelt, die Gott sich für uns wünscht, können wir uns dennoch entscheiden, sein Reich zu verkörpern – indem wir die andere Wange hinhalten, wenn uns Unrecht widerfährt. Mit Kreativität und Weisheit können wir entdecken, wie sich diese Vision in jeder Lebenslage verwirklichen lässt. (28) Dabei müssen wir nicht verzweifelt nach der einen „richtigen“ Reaktion suchen. Wenn wir auf Jesu Leben achten, lernen wir, unsere Vorstellungskraft zu schärfen – um kreative und wirksame Wege zu finden, auf neues Unrecht zu antworten.
Wenn wir uns entscheiden, dem Bösen durch Taten der Liebe zu widerstehen, anstatt den Kreislauf des Leids fortzusetzen, werden wir zu Wegweisern einer neuen Schöpfung – einer Welt, in der Gerechtigkeit und Frieden herrschen.
Original von BibleProject Scholar Team
Übersetzung von Julia Pfeifer
- Mt. 5,38; s. Exod. 21,23–24; Lev. 24,19–20; Deut. 19,21.
- Mt. 5,39 (BibleProject Übersetzung).
- Mishnah Baba Qamma 8,6-7.
- Craig S. Keener, The Gospel of Matthew: A Socio-Rhetorical Commentary (Grand Rapids: Eerdmans, 2009), 197.
- Keener, The Gospel of Matthew, 198.
- Mt. 5,40 (BibleProject Übersetzung).
- Siehe Exod. 22,25–27; Deut. 24,10–13.
- Keener, The Gospel of Matthew, 198.
- Siehe auch David E. Garland, Reading Matthew: A Literary and Theological Commentary (Macon, GA: Smyth & Helwys), 74.
- Mt. 5,41 (BibleProject Übersetzung).
- Als Beispiel, siehe Mt. 27,32.
- Mt. 5,42.
- NeÜ Übersetzung
- Martin Luther King Jr., Where Do We Go from Here: Chaos or Community? (Boston: Beacon, 1967), 62.
- Professor der Theologie am McCormick Theological Seminary
- Anna Case-Winters, Matthew, Belief: A Theological Commentary on the Bible (Louisville: Westminster John Knox, 2015), 82, 84.
- Gen. 4,23–24.
- Gen. 42–44.
- Gen. 42,21–22.
- Gen. 44,14–45,15.
- Mt. 26,67; 27,35; Joh. 19,17; siehe auch Dennis T. Olson, „Loving Enemies as Being Birthed into God’s Creation-Wide Family: A Homiletical Exploration of Matthew 5:38–48,“ Word & World: Supplement Series 5 (2006): 64.
- Lukas 23,34.
- Siehe Jes. 56,7, was Jesus zitiert.
- Naim Ateek, “Who Is My Neighbor?” Interpretation 62 (2008): 165.
- Siehe Jes. 60,18.
- Siehe Jes. 65,25.
- Siehe Phil. 2,1–10.
- Siehe auch Jonathan T. Pennington, The Sermon on the Mount and Human Flourishing: A Theological Commentary (Grand Rapids: Baker Academic), 197–198.