Die Geschichte von Jesu Leben, Tod und Auferstehung erhält viel verdiente Aufmerksamkeit, aber wir übersehen manchmal eine andere entscheidende, geheimnisvolle Szene in der Erzählung. Zu Beginn der Apostelgeschichte erfahren wir, dass Jesus nach seiner Auferstehung in den Himmel „entrückt“ oder „emporgehoben“ (griechisch epērthē) wird, wo er hinter den Wolken verschwindet (Apostelgeschichte 1,9). Und hier kommt der Kontext.
Als die Nachfolger Jesu sich nach seiner Auferstehung mit Jesus trafen, fragten sie ihn „Herr, wirst du dann das Reich Israel wiederherstellen?“ Er antwortete „Die Zeiten und Fristen dafür hat der Vater selbst festgelegt. Ihr müsst das nicht wissen. Aber ihr werdet Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist über euch gekommen ist, und so meine Zeugen sein in Jerusalem, in ganz Judäa und Samarien und bis in den letzten Winkel der Welt.“
Nachdem er das gesagt hatte, wurde er emporgehoben und eine Wolke verhüllte ihn. Und als sie immer noch gespannt zum Himmel aufschauten, standen plötzlich zwei Männer bei ihnen. Sie waren ganz in Weiß gekleidet. „Ihr Männer von Galiläa“, sagten sie, „was steht ihr hier und starrt in den Himmel? Dieser Jesus, der von euch weg in den Himmel aufgenommen wurde, wird genauso wiederkommen, wie ihr ihn habt in den Himmel gehen sehen.“
Apostelgeschichte 1,6-11
Der Glaube daran, dass Jesus in den Himmel emporgehoben wurde – bekannt als die „Himmelfahrt“ – spielt für die Nachfolger Jesu seit fast 2.000 Jahren eine wichtige Rolle (z.B. im Bekenntnis von Nicäa, 325 n.Chr.)
Aber was bedeutet es eigentlich, dass Jesus „in den Himmel emporgehoben“ wurde? Ist Jesus in den Weltraum aufgestiegen? Ist der Sinn der Himmelfahrt, dass Jesus in die Wolken entschwebt ist, oder bedeutet es etwas anderes? Und was noch wichtiger ist: Warum ist das alles von Bedeutung? Um diese Fragen zu beantworten und die mächtige Himmelfahrt Jesu besser zu verstehen, müssen wir einen Schritt zurückgehen und bei den großen biblischen Konzepten von Himmel und Erde anfangen – dem Ort, an dem Gott ist und dem Ort, an dem die Menschen sind.
Werfen wir einen Blick darauf!
Der Ort, an dem die Menschen sind und der Ort, an dem Gott ist
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.
Genesis 1,1
Die Geschichte der Bibel beginnt damit, dass Gott Ordnung ins Chaos spricht, indem er Himmel und Erde erschafft. Aber was ist mit „Himmel“ und „Erde“ gemeint?
In Hebräisch bedeutet das Wort „Himmel“ (Hebr. schamayim) buchstäblich „die Lüfte“. Im Deutschen benutzen wir das Wort „Erde“, um den gesamten Planeten oder den Globus zu bezeichnen. Aber der hebräische Wortstamm ehrets bedeutet einfach „Land“. Himmel und Erde sind also im Grunde „die Lüfte“ und „das Land“. Aber da ist noch mehr.
In der gesamten Bibel verwenden die Autoren den Ausdruck „Himmel“ oder „die Himmel“, um den Ort zu bezeichnen, an dem Gott lebt – Gottes Raum. Und sie verwenden „Land“ oder „die Erde“, um den Ort zu bezeichnen, an dem die Menschen leben – den Raum der Menschheit. Der Schlüsselgedanke dazu ist, dass beide Orte in der natürlichen, geschaffenen Welt zu finden sind. Warum also sagen wir, dass Gott „dort oben“ ist, wenn er auch hier ist?
Wenn die alten hebräischen Autoren über geografische Orte und räumliche Beziehungen in der physischen Welt sprachen, verwendeten sie diese physischen Beschreibungen oft, um eine höhere, transzendente Realität darzustellen. Der Tod und die Leere sind zum Beispiel unten oder unter dem Scheol. Und weil Gott transzendent ist und über allem steht, wird sein Raum metaphorisch als oben oder als in den Himmeln beschrieben.
Das Wichtigste dabei ist, dass Gott letztlich keinen übernatürlichen Ort schafft, an dem er getrennt von den Menschen lebt. Gottes Vision für den Himmel und die Erde – Gottes Ort und den Lebensraum der Menschheit – ist, dass beide vollständig ineinander übergehen. Der Ort, an dem Gott ist und der, an dem wir sind, sollen sich überschneiden, „wie im Himmel, so auf Erden“ (Matthäus 6,10). So sieht die Welt auch in der Erzählung vom Garten Eden aus. Wenn wir das erkennen, können wir nicht nur den Garten und den Tempel besser verstehen, sondern auch, was es bedeutet, wenn wir sagen, dass Jesus „emporgestiegen“ ist.
Der Gartentempel und die Himmelfahrt
Die ganze Schöpfung ist Gottes Tempel. Und in der Mitte dieses kosmischen Wohnortes erschafft Gott einen anderen Tempel – den oben erwähnten Garten namens Eden (siehe auch unseren Blogartikel „Waren Adam und Eva Priester in Eden?“ aus der Serie „Königliche Priester“).
In Genesis lesen wird, dass der Eingang des Gartens nach Osten zeigte (Genesis 2,8) und in Hesekiel lesen wir, dass er auf einem Berg lag (Hesekiel 28,14 + 16). Denke daran, wie die biblischen Autoren geografische Lagen nutzen, um eine transzendente Realität darzustellen.
Wo befindet sich der Garten? Er liegt oben auf einem Berg. Eden wird als kosmischer Berg-Garten-Tempel dargestellt!
Als Gottes königliche Priester gingen Adam und Eva metaphorisch auf diesen kosmischen Bergtempel hinauf, um in Gottes Gegenwart zu sein. Sie schwebten nicht in den Himmel hinauf oder kletterten gar auf einen Berg, aber so hat der Autor die Transzendenz Gottes literarisch besonders betont.
Auf dem Gipfel des Berges, ganz mit Gott vereint und nach seinem Willen lebend, empfingen Adam und Eva Gottes schöpferisches Wort und sein gutes Leben. Und als Gottes Stellvertreter wurden sie beauftragt, von Eden hinabzusteigen und Gottes Wort und Leben auf die gesamte Schöpfung auszudehnen.
Beachte, dass ihr Aufstieg sie nicht von der physischen Schöpfung entfernt, und auch durch ihren „Abstieg“ in die Welt verlassen sie nicht Gottes Reich. Könnte man sagen, dass sie gleichzeitig auf- und absteigen und hier auf der Erde wie im Himmel nach dem Willen Gottes lebten? Und wenn ja, wie würde dies unser Verständnis der Himmelfahrt Jesu beeinflussen?
Die Priester und die Himmelfahrt
In der Exodus Geschichte lesen wir, dass Gott Mose und den Anführern Israels befiehlt, auf einen Berg hinaufzusteigen, in Gottes Gegenwart zu essen und seine Anweisungen für das Volk Israel zu empfangen (Exodus 24). Mose steigt mit den Ältesten in die Wolke göttlicher Herrlichkeit auf, um Gott zu treffen. An diesem Ort, an dem Gott ist und den der Autor als „klar und leuchtend wie der Himmel“ beschreibt (Exodus 24,10), sehen wir das Menschliche und das Göttliche in geheimnisvollem Miteinander. Und beide Orte, der von Gott und der der Menschen, sind verschmolzen zu einem. Erinnern wir uns: Diese Menschen sind in den Raum Gottes eingetreten, ohne die physische Welt zu verlassen, was im Grunde die Rolle des Priesters beschreibt. Der Priester kommt in Gottes Gegenwart, um andere in dieselbe Richtung zu führen, hinauf zu Gott.
Dann lädt Gott Mose ein, weiter zu gehen, noch weiter hinaufzusteigen zu dem Ort, an dem er ihm lebensspendende Worte für das Volk unten geben wird. Der priesterliche Aufstieg Moses ist eine Wiederbelebung des Ideals von Eden: Die Menschheit ruht in Gottes Gegenwart in einem kosmischen Bergtempel.
Der Tag der Versöhnung
Ein weiteres Priesterbeispiel finden wir im Buch Levitikus, in dem genauer untersucht wird, wie Gott Israel durch die Priester dazu befähigt, hinaufzusteigen und ganz in seiner Gegenwart zu leben. In der Mitte des Buchs Levitikus (Levitikus 16-17) lesen wir vom Tag der Versöhnung (Jom Kippur). An diesem Tag bringt der Hohepriester einmal im Jahr ein besonderes Opfer, um ganz Israel von all seinen Sünden zu reinigen. Der wichtigste Punkt daran ist, dass es dem Volk ermöglichte, in Gottes Gegenwart zu leben. Achte auf die Abfolge: Zuerst ein bedeutendes Opfer, dann die Himmelfahrt.
Interessanterweise ist der Versöhnungstag der einzige Tag im Jahr, an dem der Hohepriester symbolisch emporsteigt, um sich mit Gott zu treffen. Mose bringt ein Opfer dar, bevor er aufsteigt (Exodus 24,5-8) und so bringt auch der Hohepriester vor seinem Aufstieg ein Opfer dar (Levitikus 16,15). Und wie Mose steigt auch der Hohepriester ausschließlich in die Gegenwart Gottes auf, um im Namen des Volkes zu Gott zu sprechen und zu beten. Der Hohepriester steigt symbolisch in den Kosmos auf, indem er durch den Vorhang in der Stiftshütte geht, der den Raum der Menschen vom Raum Gottes trennt. Damit tritt er in die transzendente Gegenwart Gottes.
Wir sehen also die ersten Menschen, Adam und Eva, Mose und die Priester, die alle auf diese Weise in die Gegenwart Gottes hinaufsteigen. Aber was ist mit allen anderen Menschen in Israel?
Das Volk und die Himmelfahrt
Kurz nachdem David König wurde, steigt er auf die Hügel im Zentrum von Israels Stämmen und gründet dort eine Hauptstadt, Jerusalem; auch bekannt als Zion oder Davidstadt (2. Samuel 6). Hier wird der Tempel nach dem Vorbild des Gartens Eden gebaut, voller Gold- und Blumenbilder, von dem jedes auf den Gartentempel Eden verweist (1. Könige 8,29-32)
Der Tempel ist also ein symbolisches Modell, das auf den neuen Himmel und die neue Erde hinweist, einen von Gottes Gegenwart durchdrungenen Ort, an dem die Menschheit wieder in Gemeinschaft nach seiner Lebensweise und seinem Willen für die gesamte Schöpfung leben wird. Der Tempel ist ein Symbol für die Aufgabe Israels (und der gesamten Menschheit) – oder die hohe Berufung –, Gottes Gegenwart in der Welt zu verbreiten und allen Familien der Erde Segen zu bringen.
Beim Lesen der Bibel fällt auf, dass die biblischen Autoren jedes Mal, wenn die Israeliten zu den Festen nach Jerusalem reisten oder wenn sie im Tempel opferten oder Gottesdienst feierten, schrieben, dass das Volk „hinaufgeht“ oder „aufsteigt“ nach Jerusalem (z.B. 1. Könige 12,27; Psalm 122,1; Micha 4,2; Jesaja 2,3). Unabhängig davon, ob die Menschen tatsächlich „aufstiegen“ oder „zum Berg zogen“, die biblischen Autoren nutzten diese geografischen Beschreibungen des Berges und des Aufstiegs.
Während die Menschen nach Jerusalem hinaufzogen, sangen sie die Psalmen des Aufstiegs (z.B. Psalm 122) im gemeinsamen Lobpreis auf dem Weg nach oben, in Gottes Gegenwart.
Der große Hohepriester
Im Neuen Testament lesen wir, dass Jesus hinauf reist nach Jerusalem, wo er vor Gericht gestellt wird (Markus 10,33). Nachdem er zum Tode verurteilt ist, steigt er nach Golgatha hinauf, wo er hoch oben an ein Kreuz genagelt wird (Johannes 3,14; 8,28; 12,32; 19,17; Matthäus 27,33; Markus 15,22). Und nach drei Tagen wird Jesus von den Toten auferweckt (Lukas 24,7). Die biblischen Autoren wollen uns mit all diesen Bildern des Aufstiegs etwas mitteilen.
Am Anfang der Apostelgeschichte beschreibt Lukas eine Szene, in der Jesus „emporgehoben“, und von einer Wolke „verhüllt“ wird (Apostelgeschichte 1,9). Lukas gibt seinen Lesern keinen Videobeweis von dem, was an diesem Tag geschah. Stattdessen verwendet er bewusst die geografische und raumbezogene Sprache des Aufstiegs, um eine transzendente Bedeutung zu vermitteln. Er verwendet die gleichen Bilder wie bei der Thronbesteigung des Menschensohns aus Daniel 7,13-14 und der Erhöhung des leidenden Knechts in Jesaja 52,13-15. Dadurch können seine Leser die zugrunde liegenden Ideen miteinander verbinden: Jesu Kreuzigung, Auferstehung und Himmelfahrt sind Teil seiner Thronbesteigung im himmlischen Tempel.
Jesus der königliche Priester
Der auferstandene Jesus ist der wahre, physische Mensch (mit den Narben seiner Kreuzigung; siehe Johannes 20,27); und er ist der Erstgeborene aller Schöpfung, der nach seiner Auferstehung weiterlebt (1. Korinther 15,20-58). Wir sind eingeladen, auf seine Weise zu leben. Und er verspricht, dass auch wir physische Menschen bleiben werden wie er, während wir vollen Anteil haben an der göttlichen Natur (2. Petrus 1,4).
Nachdem er aufgestiegen ist, so wie wir es tun werden, lebt Jesus nun für immer an dem Ort, an dem Gott wohnt, als auch an dem, in dem die Menschen wohnen. Adam und Eva erlebten diese Art der sich überschneidenden Zweisamkeit mit Gott nur zum Teil. Aber Jesus erfährt sie in vollem Umfang, weil er sich entschieden hat, Gottes Willen von Anfang bis Ende zu folgen. Und seine Vereinigung von Himmel und Erde in sich selbst ist nun vollständig, oder wie er sagte: „Es ist vollbracht“ (Johannes 19,30). Jesus ist die neue Menschheit, die wir auch eingeladen und berufen sind, zu werden.
Im Himmel, wie auf Erden
Die Nachfolger Jesu sind jetzt „in Christus“ (2. Korinther 5,17) und dürfen entscheiden, ob sie mit ihm emporsteigen.
Aber wie wir gesehen haben, bedeutet das mit Sicherheit nicht, dass wir eines Tages in den Weltraum entschweben, wenn wir sterben. Stattdessen bedeutet es, dass wir unser menschliches Leben in Gottes Werk zur Verbreitung seines Wortes und seines Lebens hier auf der Erde einbringen. Es geht darum, zu erklären, dass „dein Wille, nicht mein Wille“ auf der Erde (dem Lebensraum der Menschheit) geschehen soll, so wie im Himmel, dem Ort, an dem Gott ist (Matthäus 6,9-13).
Alle Autorität in Himmel und Erde gehört Jesus und er hat seine Nachfolger ausgesandt, um zu verkünden, dass sein unzerstörbares, gutes Leben im Hier und Jetzt verfügbar ist (Matthäus 28,18-20). Dieses starke, andauernde Leben bedeutet, den Gott der Liebe in seiner ganzen Tiefe kennenzulernen, so dass unsere Vorstellungen und Zuwendungen befreit und verändert werden können, um Gott und unseren Nächsten zu lieben (Markus 12,30-31).
Wir sind eingeladen, in diese Lebensweise aufzusteigen.
Als königliche Priesterschaft (1. Petrus 2,9), als Tempel, in denen der Heilige Geist wohnt (1. Korinther 3,16), werden die Nachfolger Jesu zu dem Ort, an dem sich Himmel und Erde überschneiden. Und das bringt echten Segen über all unsere Nächsten.
Indem wir unser Leben mit anderen teilen, und weiter auf eine Art und Weise lieben, die Himmel und Erde immer mehr vereint (siehe Epheser 2,19-22; 1. Petrus 2,4-5), können wir Gott vertrauen, dass er uns in die neue Schöpfung erhebt, den neuen Himmel und die neue Erde. Er ist derjenige, der uns jetzt heilt und vervollständigt. Und er verspricht, dass er dieses Werk vollendet, wenn wir uns entscheiden, ihm nachzufolgen und mit Christus in die vollends vereinten Himmel und Erde aufzusteigen (Offenbarung 21-22).
Original von Shara Drimalla & BibleProject Team
Übersetzung von Julia Pfeifer