Die Bibel beginnt mit einer eindrucksvollen Behauptung: Die gesamte Schöpfung ist Gottes Tempel.
Die erste Schöpfungserzählung in Genesis 1,1-2,3 stellt Gott als kosmischen Tempelbauer dar. In sieben Tagen erschafft Gott hier aus einer dunklen Einöde eine geordnete Welt. Und am siebten Tag erfüllt Gottes Gegenwart die Schöpfung, als er in seinem Tempel zur Ruhe kommt und dort regiert.
In Genesis 2,4b-3,24 finden wir einen ergänzenden Schöpfungsbericht, der sich auf den Garten Eden konzentriert. In diesem Bericht wird geschildert, wie Gott die Welt aus Chaos und Einöde heraus ordnet, und die Menschen in einen Gartentempel setzt.
Aber wenn der Garten ein Tempel ist, macht das die Menschheit dann zu Priestern?
Die Schöpfung als Gottes Tempel
Werfen wir als Erstes einen Blick darauf, wie Gottes Welt als sein Tempel dargestellt wird. Obwohl die Schöpfung im Text nicht ausdrücklich als Tempel bezeichnet wird, wird sie durch die literarische Gestaltung des ersten Schöpfungsberichts in der hebräischen Bibel als Gottes Tempel dargestellt.
Es fällt zunächst auf, dass die Schöpfungsgeschichte in einem Zeitraum von sieben Tagen erzählt wird. Das ist von großer Bedeutung! Denn in der Welt der alten Israeliten wurden Tempel immer mit einer siebentägigen Zeremonie eingeweiht. Das galt nicht nur für den Tempel, den die Israeliten für ihren Gott bauten (Levitikus 8,33-35; 1. Könige 8,2; 8,65; Hesekiel 43,25-27), sondern auch für die Tempel, die die Nachbarvölker für ihre Gottheiten errichteten. Dieses Ritual war so tief in der antiken Kultur verwurzelt, dass die Israeliten eine siebentägige Schöpfungsgeschichte sofort so verstanden hätten, dass die Schöpfung selbst ein Tempel für ihren Gott war.
Wir können in der dreiteiligen Gestaltung der israelitischen Stiftshütte und des Tempels sehen, dass die Israeliten diesen Aufbau der Schöpfung verstanden haben (Allerheiligstes, Heiligtum und Vorhof).
Diese Parallele verdeutlicht eine wichtige Wahrheit über die Schöpfung selbst: Der Kosmos ist ein Makrotempel, und der Tempel ist ein Mikrokosmos. So wie die alten Anbeter eine Statue ihres Gottes in das Herz eines Tempels stellten, so ist der Mensch in Gottes kosmischem Tempel als sein Abbild (tselem oder „Götze“) platziert – ein leibhaftiges Abbild des göttlichen Schöpfers und Königs (Genesis 1,26-27).
Himmel und Erde sind nicht als getrennte Reiche gedacht. Vielmehr sollen sie sich völlig überschneiden. Gott hat die Schöpfung als den Ort bestimmt, an dem die Menschen für alle Ewigkeit mit der Schönheit und Gegenwart Gottes vereint sein werden.
Der Garten Eden als Tempel
Die gesamte Schöpfung ist der Tempel Gottes. Und inmitten dieses kosmischen Tempels schafft Gott einen weiteren Tempel – einen Garten.
Die Karte von Genesis 2,4-18 ahmt die des Heiligtums nach.
Im weiteren Verlauf der hebräischen Bibel wies Gott die israelitischen Anführer an, Gartenbilder in die Stiftshütte und den Tempel einzubauen. Der Baum des Lebens (Genesis 2,9) wird durch den Leuchter in der Stiftshütte und im Tempel symbolisiert (Exodus 25,31-40). Die Gefahr der „Mitte“ des Gartens entspricht der Gefahr des „heiligen Bodens“ für Jakob in Bethel (Genesis 35,2) und für Mose und die Israeliten auf dem Sinai (Levitikus 5, 19,1-12).
Der Baum der „Erkenntnis“ von Gut und Böse in der Mitte des Gartens (Genesis 2,9), dem man sich nicht nähern darf (Genesis 2,17), gleicht den Tafeln der Tora in der Bundeslade im Allerheiligsten (Deuteronomium 31,26), die Israels „Weisheit“ (Deuteronomium 4,4-6) und „Leben“ (Deuteronomium 32,46-47) sind.
Und so wie der Eingang zum ersten Tempel Israels nach Osten gerichtet war und auf einem Berg lag (Exodus 15,17), sollte auch der in Hesekiel beschriebene zukünftige Tempel nach Osten gerichtet sein (Hesekiel 40,6) und auf einem Berg gebaut werden (Hesekiel 40,6; 40,2; 43,12). In ähnlicher Weise war der Eingang zu Eden nach Osten ausgerichtet (Genesis 3,24) und befand sich auf einem Berg (Hesekiel 28,14, 16).
Diese Gestaltungselemente sind beabsichtigt. Denn jedes Bild verweist zurück auf den Gartentempel von Eden.
Adam und Eva als Priester im Garten Eden
Wenn die biblischen Autoren wollten, dass wir den Garten als einen Tempel sehen, sollen wir dann Adam und Eva auch als Priester sehen?
Es scheint tatsächlich so zu sein, dass die Autoren genau das im Sinn hatten. Im Gartentempel dienten die Menschen als Gottes königliche Stellvertreter oder als Priester.
In der hebräischen Bibel war der Tempel der Ort, an dem die Priester in einzigartiger Weise die Gegenwart Gottes erfuhren. Im Garten erlebten die Menschen Gottes Gegenwart in vollem Umfang – sie gingen mit ihm spazieren und sprachen mit ihm. Die hebräische Verbalform (hithpael), die für Gottes „Hin- und Hergehen“ im Garten verwendet wird (Genesis 3,8), beschreibt auch Gottes Gegenwart in der Stiftshütte (Levitikus 26,12; Deuteronomium 23,15; 2. Samuel 7,6-7; Hesekiel 28,14). Außerdem wird in Genesis 2,15 das Werk des Menschen in priesterlichem Vokabular beschrieben:
„Jahwe-Gott brachte also den Menschen in den Garten Eden, damit er diesen bearbeite und beschütze.“
Diese beiden Verben in Genesis 2,15 sind von großer Bedeutung, da sie die ideale Berufung des Menschen beschreiben.
Das hebräische Wort ‘abad (עבד) kann mit „arbeiten“, „dienen“ oder „anbeten“ übersetzt werden. Es ist ein gebräuchliches Verb und wird häufig für die Kultivierung des Bodens verwendet (Genesis 2,5; 3,23; 4,2.12). Das Wort wird jedoch auch im religiösen Sinne für den Dienst vor Gott verwendet (Numeri 4,19) und in priesterlichen Texten, insbesondere in Bezug auf die Pflichten der Leviten in der Stiftshütte (Numeri 3,7-8, 4,23-24, 4,26).
Das zweite hebräische Wort, das mit „beschützen“ übersetzt wird, ist shamar (שמר), das üblicherweise für einen priesterlichen Gottesdienst sowie in Gesetzestexten zur Einhaltung religiöser Gebote und Pflichten verwendet wird (Levitikus 18,5). Das Wort wird auch für die levitische Aufgabe verwendet, die Stiftshütte vor Eindringlingen zu bewachen (Numeri 1,53; 3,7-8).
Wenn diese beiden Verben ‘abad (עבד) und shamar (שמר) zusammen in einem Satz verwendet werden, verweisen sie entweder auf Israeliten, die dem Wort Gottes dienen und es bewachen/befolgen, oder, häufiger, auf die Priester und die Leviten, die Gott im Tempel dienen und den Tempel bewachen (Numeri 3,7-8; 8,25-26; 18,5-6; 1. Chronik 23,32; Hesekiel 44,14).
Als Gottes priesterliche Stellvertreter sollten Adam und Eva Mittler zwischen Gott und den Menschen sein – sie sollten im Namen anderer Menschen mit Gott in Beziehung treten und seinen Charakter durch Liebe, Mitgefühl, Großzügigkeit und Gerechtigkeit widerspiegeln.
Als Priester hatten Adam und Eva die Aufgabe, sich um diesen heiligen Raum zu kümmern. Sie sollten „arbeiten und dienen“, indem sie sich mit Gott an der ständigen Aufgabe beteiligten, die von Gott im Kosmos geschaffene Ordnung aufrechtzuerhalten und zu bewahren. Und Gott beauftragte die Menschen, ihre eigene schöpferische Kraft und Fantasie einzusetzen, um die Ordnung und Schönheit des Gartentempels in der übrigen Schöpfung zu verbreiten.
Priesterliches Versagen und zukünftige Hoffnung
Das Wissen um ihre ursprüngliche priesterliche Funktion macht die Rebellion von Adam und Eva in Genesis 3 umso tragischer. Sie nehmen und essen vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse und verbreiten statt des Segens von Eden Misstrauen, Gewalt und Tod in der ganzen Welt. Gott verbannt die Menschheit aus dem wohlgeordneten Gartentempel in das Chaos der Wüste.
Doch dieses Exil ist nicht hoffnungslos. Noch bevor sie den Gartentempel verlassen, erhalten Adam und Eva die Verheißung eines zukünftigen „Samens“ (Genesis 3,15), der kommen wird, um das Böse zu besiegen und die Schöpfung wiederherzustellen. Und er wird derjenige sein, der die Rolle des Priesters erfüllen wird.
Die ideale Gestaltung der Schöpfung, des Gartentempels und der Rolle des Menschen als Priester lehrt uns etwas über unsere ideale Rolle als Mensch. Der Mensch wurde als priesterlicher Stellvertreter als Ebenbild Gottes geschaffen. Wir wurden geschaffen, um mit Gott in Beziehung zu treten und seinen Charakter für andere widerzuspiegeln. Wir wurden geschaffen, um „zu arbeiten und zu dienen“, um aufrechtzuerhalten und zu bewahren und unsere schöpferische Kraft und Fantasie zu entfesseln, um die Ordnung und Schönheit des Gartentempels in den Rest der Schöpfung zu tragen.
Auf welche Weise erfüllen wir dieses Ideal? Wie leben wir die uns zugedachte Rolle als Priester aus? Wie spiegeln wir Gottes Charakter für die Menschen um uns herum wider? Wie bemühen wir uns um Gerechtigkeit, wie zeigen wir Mitgefühl und wie verbreiten wir die Ordnung und Schönheit des Gartens in der übrigen Schöpfung?
Der Schöpfungsbericht lädt uns ein, nachzudenken und zu reflektieren: über unsere ideale Rolle als Priester; über unser Versagen, diesem Ideal gerecht zu werden; und über die Hoffnung, die wir in Jesus haben, dem zukünftigen „Samen“, der eine neue Menschheit und ein neues Königreich von Priestern geschaffen hat und der eines Tages Himmel und Erde wieder vereinen wird.
Und in dieser neuen Schöpfung – diesem neuen Garten – wird die Menschheit „arbeiten und dienen“, und wieder als Gottes Ebenbild und Priester in seinem kosmischen Tempel herrschen.
Original von Shara Drimalla & BibleProject Team
Übersetzung von Julia Pfeifer