Inzwischen sollte das grundlegende Dilemma, das in Levitikus vorausgesetzt ist, klar sein: die Israeliten sind sündige und korrupte Menschen (wie wir alle), die auch in Zukunft sündigen werden. Sie brauchen dringend einer Läuterung und Reinigung durch Gott. Die Israeliten brauchten irgendeine Art System, das folgende Punkte leisten konnte:
1. Sie von der Sünde abwenden
2. Eine gerechte Entschädigung für die schwerwiegenden Kosten der „Schuld“ bereitstellen
3. Einen Weg zur Läuterung und Reinigung der Gemeinschaft (und besonders des Tempels) vom ansteckenden Wesen der Sünde ermöglichen
4. Sicherstellen, dass Gott bei seinem Volk gegenwärtig bleibt.
Tieropfer waren eine weiterverbreitete Praxis im alten Vorderen Orient, aber ihre Bedeutung in der biblischen Geschichte war ganz anders als die der unbeständigen, wütenden Götter ihrer Nachbarn. Wenn die Israeliten die Kehle eines Tieres aufschnitten und beobachteten, wie das Blut (sein Leben) aus seinem Körper hinausfloss, war das für sie ein starkes Symbol für die verheerende Folgen ihrer Sünde und Selbstsüchtigkeit. Es steht viel auf dem Spiel – das Böse der Menschen setzt den Tod in die Welt frei.
Wenn die Israeliten ihren Nachbarn betrogen oder seinen Esel stahlen, konnten sie versucht sein zu glauben, dass es keine große Sache sei; aber wenn man dieses Fehlverhalten mit zehntausend oder gar hunderttausend Menschen multipliziert, kommt dabei eine gewalttätige und korrupte Gemeinschaft heraus. Der symbolische Tod des Tieres ist ein physisches Symbol für das, was wirklich auf dem Spiel steht. Das Leben oder Sterben der Gemeinschaft. Man könnte diesen Teil des Symbols als eine Abschreckung verstehen.
Allerdings erreichte dieses Symbol noch viel mehr. Der Tod des Tieres war nicht nur eine Erinnerung an die tragischen Konsequenzen der Sünde; sein Leben wurde auch als symbolischer Stellvertreter geopfert. Wenn die Sünde Gottes Welt durch Tod und Schmerz verwüstet, hat Gott jedes Recht dazu, die Menschen für die gerechten Konsequenzen geradestehen zu lassen. Glücklicherweise liebt Gott seine Schöpfung und möchte sie nicht töten. In dieser Hinsicht wurde das Leben des Tieres in symbolischer Art und Weise als eine Lösegeldzahlung geopfert, die sie abdecken würde.
Das Wort „abdecken“ ist die wörtliche Übersetzung des hebräischen Wortes kipper/kopher, das im Deutschen nun mit „Wiedergutmachung“ oder „Sühnung“ übersetzt wird. Die Israeliten sahen das Blut des Tieres auch als Symbol für das Leben des Tieres selbst (siehe Lev 17,11). Weil Blut das Leben repräsentiert – oder das Gegenteil des Todes – konnte die Besprengung des Tempels als eine Art Reinigung wirken. Es konnte den Tempel in symbolischer Art und Weise vom Tod (der natürlichen Folge der Sünde) und von der Verunreinigung reinwaschen. Dadurch konnte die Gegenwart Gottes weiterhin inmitten des Volkes Israel bleiben.
Diese Sühneopfer waren das Mittel, mit dem Gott mit der Sünde der Israeliten umging und ein zuverlässiges System bereitstellte, mit dem die Israeliten ihre richtige Beziehung zu Gott aufrechterhalten konnten, wenn sie gesündigt hatten. Dieser Ersatz wird also nicht von den Menschen angeboten in der Hoffnung, einen unbeständigen und wütenden Gott zu beschwichtigen. Ganz im Gegenteil! In Levitikus wird dieser Ersatz von Gott selbst bereitgestellt.
Die biblische Symbolik der Tieropfer ist ein konkreter Ausdruck von Gottes Gerechtigkeit und Gnade zugleich. Die Opfer erinnerten die Israeliten an die Ernsthaftigkeit ihrer Sünde, ihren Folgen für den Einzelnen und für die Gemeinschaft als Ganzes. Letztlich zeigten diese Opfer den Israeliten auch, wie wichtig Gott die Aufrechterhaltung der Bundesbeziehung zu ihnen war, damit sie zu einem „Königreich von Priestern“ werden konnten, das Gottes gutes Wesen wiederspiegelt.