Sprüche: Wie menschliche Weisheit zu göttlicher wird

Hör auf deine Mutter und deinen Vater…

Wenn man das Buch der Sprüche aufschlägt und die erste Zeile liest: „Sprichwörter von Salomo Ben-David, dem König von Israel.“ (1,1), erwartet man, dass man Sprüche liest – kurze, kluge Sprüche, die es in sich haben und einem eine Art Weisheit für das gute Leben vermitteln. Aber das ist nicht das, was man bekommt. Stattdessen erhält man zehn lange, zusammenhängende Reden eines Vaters an seinen Sohn, verwoben mit vier Gedichten von „Frau Weisheit“ an die Menschheit. Erst in Kapitel 10, wo die Überschrift wiederholt wird, beginnt man, die Sprichwörter selbst zu lesen.

Diese Struktur wirkt etwas seltsam. Warum beginnt die Sammlung der „Sprichwörter Salomos“ mit einer ausführlichen Einleitung (neun Kapitel!), die sich so grundlegend vom Rest des Buches unterscheidet? Was geht hier vor?

Religiöse Autorität in der Weisheitsliteratur

Um Sprüche 1-9 zu verstehen und wie sie uns auf die Lektüre des restlichen Buches vorbereiten, müssen wir zunächst die Grundlage der religiösen Autorität in der Weisheitsliteratur betrachten. Sie unterscheidet sich auf verblüffende Weise von anderen Teilen der Bibel. Sprichwörter gibt es in fast allen menschlichen Kulturen und sie werden normalerweise von einer Generation an die nächste weitergegeben. Ihrer Definition entsprechend stammen Sprichwörter von weisen, reflektierten Menschen, die ihre Beobachtungen über das Leben in kurzen, klugen Sprüchen zusammengefasst haben, die auf unsere eigene Lebenserfahrung zutreffen. Viele Menschen haben sich mit der Funktionsweise des Lebens und den Mustern von Ursache und Wirkung befasst, die sich aus unseren täglichen Entscheidungen ergeben. In diesem Sinne stammen Sprichwörter von früheren Generationen, die ihre Weisheit weitergegeben haben. Einfach ausgedrückt: Sprichwörter haben eine generationsübergreifende Autorität menschlicher Weisheit, die auf menschlichen Beobachtungen beruht. Und in der Bibel findet sich ein ganzes Buch, das diese Art von Weisheit beinhaltet.

Das fühlt sich etwas anders an als bei der Tora oder den prophetischen Büchern. Das Gesetz, das von Mose auf dem Berg Sinai gegeben wurde, ist der offenbarte Wille Gottes für Israel. Hier finden sich viele „Du sollst“ und „Du sollst nicht“ Gebote, die direkt von Gott kommen. Es handelt sich um eine göttliche Autorität, die im Bund Gottes mit den Menschen ihren Rahmen findet. Auch die Propheten traten mit dieser Art von Autorität auf. Aber anstatt Gebote zu geben, die von Gottes Hand geschrieben wurden, verkündigten sie die Worte, Gedanken und Absichten Gottes in einer Weise, die in der prophetischen Literatur üblich ist, nämlich mit der Formel „So spricht der Herr“. Es ist also klar, dass sowohl das Gesetz als auch die Propheten ihre religiöse Autorität von Gott ableiten.

Im Vergleich dazu ist die Grundlage der Autorität in der Weisheitsliteratur eine ganz andere. Anstatt dass Gott sich an Israel wendet, spricht hier ein Vater zu seinem Sohn:

Höre, mein Sohn, auf die Mahnung deines Vaters, verwirf die Weisung deiner Mutter nicht! 
Sprüche 1,8

Im Grunde genommen solltest du auf deine Mutter und deinen Vater hören. Früher sagte Gott am Berg Sinai „du sollst“ und „du sollst nicht“, und „so spricht der Herr“ durch Jeremia oder Jesaja. Jetzt heißt es plötzlich „Höre auf deine Eltern“ in einer Reihe von Reden zwischen Vater und Sohn. Das wirkt so… menschlich! Und das ist es auch! Das ist das Wesen der Autorität in den Sprüchen. Es ist menschliche Weisheit – Beobachtungen über das Leben von Menschen, die älter und weiser sind, die sie mit der jüngeren Generation teilen.

Wenn das die Grundlage für die religiöse Autorität ist, heißt das dann, dass es sich nur um menschliche Weisheit handelt?

Menschliche Weisheit in einen göttlichen Status erhoben

Das Buch der Sprüche ist nicht nur eine menschliche Weisheit. Es ist göttliche Weisheit. Genauer gesagt, wird durch die menschliche Weisheit Gottes eigene Weisheit offenbart. An dieser Stelle kommt die lange Einleitung mit ihren neun Kapiteln ins Spiel. Der Anspruch von Sprüche 1-9 ist, dass die Weisheit, die du in Sprüche 10-31 lesen wirst, nicht nur menschliche Weisheit ist, sondern göttliche. Der Zweck dieser einleitenden Kapitel ist es, dir zu zeigen, dass Gottes Worte an sein Volk durch die menschlichen Worte der Ältesten gekommen sind.

Lasst uns dazu die Verflechtung der zehn Vater-Sohn-Reden und der vier Gedichte der „Frau Weisheit“ in Sprüche 1-9 anschauen.

Betrachten wir zunächst die zehn Reden vom Vater zum Sohn, die alle demselben Muster folgen:

  1. Ermahnung
  2. Lektion
  3. Schlussfolgerung

Diese Vater-Sohn-Reden findest du in Sprüche 1,8-19; 2,1-22; 3,1-10; 3,21-35; 4,1-9; 4,10-19; 4,20-27; 5,1-23; 6,20-35 und 7,1-27. Der Vater ermahnt seinen Sohn, auf ihn zu hören, seine Gebote in sein Herz zu schreiben und alles in seiner Macht Stehende zu tun, um sie nicht zu vernachlässigen. Dann vermittelt der Vater eine Lektion über Tugend, Weisheit oder Integrität, die er seinem Sohn mit auf den Weg geben möchte.

Am Ende folgt immer ein abschließender Satz darüber, wie Weisheit dich beschützen und dir ein Leben in Fülle geben wird. Es gibt zehn dieser Reden, die explizit vom Vater (manchmal stellvertretend für Mutter und Vater) vorgetragen werden, um menschliche Weisheit zu vermitteln.

Aber in die zehn Reden der menschlichen Weisheit vom Vater an den Sohn sind vier Gedichte der „Frau Weisheit“ hineingewoben, die die vollkommene und transzendente universelle Weisheit symbolisiert (siehe Sprüche 1,20-33, 3,13-20, 8,1-36 und 9,1-18). Die Weisheit, personifiziert als eine Frau, ruft im Namen Gottes selbst die ganze Menschheit auf, nach ihr zu leben und auf sie zu hören.

In Sprüche 8 behauptet sie, sie sei wie ein ewiges Prinzip des Universums, weil sie das Prinzip war, mit dem Gott das moralische Universum ins Leben rief. Gott benutzte Weisheit, um das physische und moralische Gefüge der Schöpfung zu gestalten. Daher leben die Menschen immer dann nach einem göttlichen Prinzip oder einem göttlichen Wort, wenn sie auf diese Weisheit zugreifen und nach ihr leben. So erheben die „Frau Weisheit“-Gedichte die menschliche Weisheit der Ältesten in den Status einer himmlischen Weisheit und bieten dir einen Filter, durch den du den Rest des Buches lesen kannst. Es ist, als ob die vier „Frau-Weisheit“-Gedichte die Vater-Sohn-Reden kommentieren und sagen: „Lieber Leser, ist dir klar, dass du, wenn du auf die Weisheit deiner Ältesten hörst, eine transzendente, göttliche Weisheit darüber hörst, wie man in Gottes guter Welt lebt?“

Die Verflechtung von zwei Stimmen

Wenn du diese Verflechtung dieser beiden Stimmen (die menschliche Stimme des Vaters und die transzendente Stimme der „Frau Weisheit“) zu schätzen weißt, bist du bereit, die Weisheit der Ältesten in den Kapiteln 10-29 als Heilige Schrift zu lesen. In seinem Kommentar zu Sprüche 1-9 stellt Michael Fox zu Recht fest:

„Wir tragen dieses Bild der Frau Weisheit mit uns, wenn wir in die einzelnen Sammlungen der Sprichwörter hineintreten, die die Weisheit Salomos und anderer antiker Weisen enthalten. Das Bild vermittelt uns, dass die verschiedenen, oft hausbackenen Sprichwörter des Lehrervaters, der anonymen Weisen Israels und sogar Salomos selbst mit einer einzigen Stimme sprechen, und das ist die der Weisheit.“ (S. 359).

Die Sprüche Kapitel 1-9 dienen also wirklich als Auftakt zur Literatur der Sprichwörter und bereiten uns darauf vor, die Weisheit der Ältesten als göttliches Wort zu hören. Es ist wichtig, dies beim Lesen des Buches zu verstehen, damit du weißt, dass die menschliche Weisheit nicht gegen die göttliche Weisheit ausgespielt wird. Vielmehr ist das menschliche Wort oder die menschliche Weisheit das Sprachrohr für das göttliche Wort. Die beiden Stimmen, die wir in Sprüche 1-9 hören, wurden miteinander verflochten, um uns zu helfen, zu verstehen, dass wir in den Beobachtungen und Aussprüchen von Israels menschlichen Ältesten ein Echo der göttlichen, transzendenten Weisheit hören werden.

Original von Tim Mackie & Whitney Woollard
Übersetzung von Julia Pfeifer

Worum geht es im Buch Prediger? Ist das Leben wirklich bedeutungslos?

2. April 2024
Von der Bedeutungslosigkeit zum Sinn und zur Freude

Genesis und die antike Geografie des Kosmos

22. Januar 2024
Wie haben die alten Israeliten den Kosmos verstanden?

Die Geburt Jesu

4. Mai 2023
Schon in Genesis Kapitel 2 lesen wir von einem Erlöser, der in Jesus endlich Gestalt annimmt. In diesem Blogartikel geht es darum, wie Jesus in diese Welt gekommen ist.

Du möchtest auf dem Laufenden bleiben und bei Neuigkeiten zu BibleProject informiert werden?

Dann abonniere jetzt unseren Newsletter.
Der Link wurde in die Zwischenablage kopiert.