Wie man die Gleichnisse von Jesus liest
Stell dir vor, du schaust dir ein Gemälde in einem Kunstmuseum an. Aus einer ganzen Reihe ähnlicher Bilder bleibt dein Blick an diesem einen Bild hängen. Du siehst faszinierende Farben und Formen, aber kein erkennbares Muster. Das Bild spricht dich an, aber seine genaue Aussage ist dir auf den ersten Blick nicht klar.
Kunst will etwas kommunizieren, aber wir wissen nicht immer genau, was. Da drängt sich die Frage auf: Wenn Künstler etwas mit ihrer Kunst ausdrücken wollen, warum sagen sie es nicht einfach auf eine eindeutigere Art und Weise?
Man könnte sagen, dass so eine Vorgehensweise die Botschaft eher dämpft, anstatt sie zu verstärken. Ob Jesus das wohl auch so sieht?
Jesu Gleichnisse als Kunstwerke
Jesus ist ein Künstler, und manchmal auch ein geheimnisvoller Künstler, der sein Publikum gerne mal herausfordert. Dafür benutzte er Gleichnisse. Das sind kurze, fiktive Erzählungen voller lebendiger Metaphern. Aber warum sollte Jesus – ein Lehrer mit der wichtigsten Botschaft der Welt – ausgerechnet diese Art der Kommunikation wählen? Und wenn seine Kunst so abstrakt ist, wie können wir sicher sein, was er sagen wollte?
Bauern, Saatgut und unerwartete Metaphern
Ein großartiges Beispiel der Kreativität Jesu finden wir im Matthäusevangelium, Kapitel 13. Jesus erzählt seinem Publikum eine Reihe von Gleichnissen, jede davon voller Metaphern, aber sie sind nicht das, was man erwarten würde.
Zum Beispiel erzählt Jesus die kurze Geschichte von einem Bauern, der Saatgut ausbringt (Matthäus 13,3-9). In dieser Erzählung werden manche Körner von Vögeln gefressen, bevor sie Wurzeln bilden können. Einige Körner fallen auf felsigen Boden, wo sie ebenfalls keine Möglichkeit zum Wurzeln haben. Und manche Körner beginnen zu wachsen, werden aber schnell von Dornen und Unkraut erstickt. Aber in der Geschichte erzählt Jesus von einer Sorte Körnern, die Wurzeln schlagen können, wachsen und sich vermehren, und schließlich eine reiche Ernte bringen.
Später fragen seine Jünger nach der Bedeutung der Geschichte, und Jesus erklärt ihnen, dass es um das Reich Gottes geht – eine neue Realität, in der die Welt unter die Regentschaft eines guten Königs gestellt wird. Und wie stellt er die Macht und Majestät dieses Konzepts am besten in einer Metapher dar? Schimmernde Streitwagen? Ein Ansturm starker Krieger? Eine Flutwelle? Ein Wirbelsturm?
Nein … Ein Bauer, der Saatgut ausstreut, von dem das meiste noch nicht mal wächst.
Gleichnisse: Mit Absicht verwirrend?
Die Bilder, die Jesus verwendet, sind so unerwartet, dass seine Jünger ihn direkt im Anschluss fragen, „Warum erzählst du immer Gleichnisse, wenn du zu den Leuten sprichst?“ (Matthäus 13,10).
Seine Antwort ist überraschend. Er bezieht sich auf den Propheten Jesaja und erklärt, dass seine Gleichnisse unklar sein sollen, zumindest für einige Menschen (Matthäus 13,11-13).
Im Buch Jesaja hat der Prophet eine beeindruckende Vision, in der Gott ihm aufträgt, Israel vor seinem kommenden Gericht zu warnen, obwohl sie so weit von Gott entfernt sind, dass sie Jesajas Botschaft gar nicht hören werden.
Tatsächlich sagt Gott, dass Israel wie ein Baum gefällt, und selbst der Stumpf noch verbrannt werden wird. Aber aus diesem Stumpf wird ein heiliger Same der Hoffnung wachsen. Jesaja bringt König Ahas die schlechte Nachricht von Israels drohendem Untergang. Aber er beginnt auch, den Gedanken eines heiligen Samens zu enthüllen: „Deshalb wird der Herr selbst das Zeichen geben. Seht! Die Jungfrau wird ein Kind erwarten! Sie wird einem Sohn das Leben schenken und er wird Immanuel genannt werden. Das heißt: Gott ist mit uns.“ (Jesaja 7,14).
In den nächsten Kapiteln beschreibt Jesaja diesen Samen der Hoffnung als einen Spross, der aus dem Stumpf wächst. Ein zukünftiger König, der durch Gottes Geist bevollmächtigt wird, Gottes Volk zu erlösen, alle Nationen unter seiner Herrschaft zu vereinen, und mit Gerechtigkeit und Frieden für immer zu regieren. Also warum bezieht sich Jesus auf diese Aussagen des Propheten Jesaja, um die Verwendung von Gleichnissen zu erklären?
Die Gleichnisse von Jesus als prophetische Tradition
Jesaja benutzt Bilder und Metaphern, um etwas Kraftvolles zu kommunizieren, und Jesus tut dasselbe mit seinen Gleichnissen. Aber was noch wichtiger ist: An diesem Punkt im Evangelium von Matthäus haben Jesu Nachfolger begonnen zu glauben, dass er der versprochene messianische König ist, der Gottes Reich aufrichten und Israel erneuern soll. Jesus wusste, genau wie Jesaja, dass ein Großteil seiner Zuhörerschaft diese Botschaft nicht verstehen würde. Also, wie würde er seine Botschaft verbreiten, dass Gottes Reich nun da war?
Wer hat, dem wird gegeben
Jesu Gleichnisse funktionieren wie ein typisches Paradox im künstlerischen Ausdruck. Du kannst die Kreativität einer künstlerischen Botschaft so weit verwässern, dass sie für möglichst viele Personen verständlich ist. Aber es gibt einen Haken. Je verwässerter die Botschaft, desto schwächer wirkt sie für diejenigen, die „Ohren haben zu hören“.
Das erklärt auch, weshalb Jesus es häufig vorzieht, die Wahrheiten über Gottes Reich in Gleichnissen zu kommunizieren. Diejenigen, die die Botschaft schon kennen und sie bereits angenommen haben, bekommen noch mehr (Matthäus 13,12). Aber diejenigen, die Jesu Botschaft nicht akzeptieren, werden die Gleichnisse noch mehr verwirren. Seine Botschaft, wie Jesajas, hat eine paradoxe Wirkung auf die Zuhörer. Die Kraft von Geschichten – selbst kryptische, bildhafte Geschichten – wird einigen direkt ins Herz gehen, während andere sich ihr umso mehr verschließen.
Schließt Jesus mit Absicht Menschen aus?
Jesus hüllt seine Botschaft nicht in Geheimnisse, in die er einige einweiht und von denen er andere ausschließt. Er wusste, dass zumindest einige die Bedeutung des Gleichnisses verstehen. Und wer neugierig genug ist, würde in der Nähe bleiben, um mit den Jüngern zusammen nach der Bedeutung zu fragen (z.B. Lukas 8,9). Jesus sagt seinen Freunden, „Ihr aber seid glücklich zu preisen! Denn eure Augen sehen und eure Ohren hören.“ (Matthäus 13,16). Jahrhundertelang hatte Israel auf den Messias gewartet. Jesaja hat diesen „Immanuel“, den „heiligen Samen“, nie gesehen. Aber diese bunt zusammengewürfelte Gruppe von jungen Leuten sieht ihn mit ihren eigenen Augen und hört ihn mit ihren eigenen Ohren.
Die Kunst Jesu: Komplex und unerwartet
Und trotzdem ist Gottes Reich oft geheimnisvoll, selbst für Freunde von Jesus. Manchmal löst er das Mysterium auf, manchmal nicht. In einer Geschichte erzählt Jesus einer Menschenmenge, dass sie kein Leben haben, wenn sie nicht sein Fleisch essen und sein Blut trinken (Johannes 6,48-53). In einer anderen erklärt er, er könnte den Tempel in Jerusalem innerhalb von drei Tagen abreißen und wieder aufbauen (Johannes 2,18-22). In beiden Fällen ist das Publikum im besten Fall verblüfft (Johannes 2,20), im schlechtesten Fall verärgert (Johannes 6,66).
Und in keiner der Geschichten klärt Jesus die Metaphern auf. Aber warum?
Weil Jesus ein Künstler ist. Ihm geht es nicht in erster Linie darum, glasklar zu kommunizieren – manchmal scheint ihn das gar nicht zu interessieren. Jesus will seinen Zuhörern nicht einfach etwas sagen und da aufhören. Er möchte kennen und selbst gekannt werden – wie er ist, wie er redet, und warum. Auch wenn seine Kunst die Zuhörer verwirrt, zieht sie sie doch auch an und bringt sie dazu, Fragen zu stellen, mehr zu lernen, und ihre Schönheit zu erkennen.
Jesus will die Wahrheit in die tiefsten Ebenen der Seele sprechen.
Künstler wollen kommunizieren, aber sie wollen auch gekannt werden. Das wollen wir alle. Gott auch, in dessen Ebenbild wir geschaffen wurden. Der großartigste Künstler dieser Welt hätte seine Botschaft einfach auf eine große weiße Leinwand schreiben können. Wir hätten sie alle verstanden, aber wir würden wahrscheinlich heute nicht mehr darüber reden.
Wie sollen wir also heute die Gleichnisse lesen?
Wenn wir Gleichnisse lesen, sollten wir nicht krampfhaft nach einer Lehre suchen oder nach einfachen Lebensregeln. Jesus kennt und schätzt die Kraft kreativer Bilder, Symbolik und Schönheit, und das sollten wir auch. Er möchte, dass seine Zuhörer mehr tun als zuhören und nachdenken, er möchte, dass sie Bilder sehen, fühlen und herausgefordert werden.
Das ist gute Kunst.
Von Josh Porter
übersetzt von Julia Pfeifer